Der Untergang des Abendlandes
finden. Diese Linie, in deren unwirklichem Duft Himmel und Erde verschwimmen, der Inbegriff und das stärkste Symbol der Ferne, enthält das malerische Infinitesimalprinzip. Von der Ferne des Horizonts strömt die
Musik
des Bildes aus, und die großen Landschafter Hollands malen deshalb ganz eigentlich
nur
Hintergründe, nur Atmosphäre, wie umgekehrt »antimusikalische« Meister wie Signorelli und vor allem Mantegna nur Vordergründe – »Reliefs« – gemalt hatten. Im Horizont siegt die Musik über die Plastik, die
Leidenschaft
der Ausdehnung über ihre
Substanz.
Man darf sagen, daß es in keinem Gemälde Rembrandts ein »vorn« gibt. Im Norden, in der Heimat des Kontrapunkts, ist ein tiefes Verständnis für den Sinn des Horizontes und hell belichteter Fernen schon früh zu finden, während im Süden der flach abschließende Goldgrund arabisch-byzantinischer Bilder noch lange herrschend bleibt. In den gegen 1416 entstandenen Stundenbüchern des Herzogs von Berry – dem von Chantilly und dem von Turin – und bei frührheinischen Meistern taucht das reine Raumgefühl zuerst auf und erobert sich langsam das Tafelbild.
Denselben symbolischen Sinn haben die Wolken, deren künstlerische Behandlung der Antike gleichfalls völlig versagt war und die von den Malern der Renaissance mit einer gewissen spielerischen Oberflächlichkeit behandelt wurden, während der gotische Norden sehr früh ganz mystische Fernblicke auf und durch Wolkenmassen schafft und die Venezianer, vor allem Giorgione und Paul Veronese, den vollen Zauber der Wolkenwelt, der von schwebenden, ziehenden, geballten, tausendfarbig belichteten Wesen erfüllten Himmelsräume erschlossen und Grünewald wie die Niederländer ihn bis zum Tragischen steigerten. Greco hat die große Kunst der Wolkensymbolik nach Spanien gebracht.
In der ebenfalls damals, zugleich mit der Ölmalerei und dem Kontrapunkt herangereiften
Gartenkunst
erscheinen dementsprechend die langgestreckten Teiche, Buchengänge, Alleen, Durchblicke, Galerien, um auch im Bilde der freien Natur dieselbe Tendenz zum Ausdruck zu bringen, welche die von den frühen Niederländern als Grundaufgabe ihrer Kunst empfundene und von Brunellesco, Alberti und Piero della Francesca theoretisch behandelte Linearperspektive im Gemälde darstellt. Man wird finden, daß sie als die mathematische Weihe des durch den Rahmen seitlich abgegrenzten und in die Tiefe mächtig gesteigerten Bildraumes – sei er Landschaft oder Interieur – gerade damals mit einer gewissen Absichtlichkeit zum Vortrag gebracht wurde. Das Ursymbol kündigt sich an. Im Unendlichen liegt der Punkt, in dem die perspektivischen Linien zusammentreffen. Weil sie ihn vermied, weil sie die Ferne nicht anerkannte, besaß die antike Malerei keine Perspektive.
Folglich
ist auch der Park, die bewußte Gestaltung der Natur im Sinne räumlicher Fernwirkung, innerhalb der antiken Künste unmöglich. Es gab in Athen und Rom keine irgendwie bedeutende Gartenkunst. Erst die Kaiserzeit fand an orientalischen Anlagen Geschmack, deren kurze und betonte Abschlüsse jeder Blick auf die erhaltenen Pläne offenbart. [Svoboda, Römische und romanische Paläste (1919); Rostowzew, Pompejanische Landschaften und römische Villen (Röm. Mitt. 1904).] Der erste Gartentheoretiker des Abendlandes, L. B. Alberti, lehrte denn auch um 1450 schon die Beziehung der Anlage auf das Haus, d. h. auf die Betrachter in ihm, und von seinen Entwürfen bis zu den Parks der Villen Ludovisi und Albani zeigt sich ein immer stärkeres Hervortreten perspektivischer Fernblicke. Frankreich hat dem seit Franz I. die langen Wasserstreifen hinzugefügt (Fontainebleau).
Das bedeutsamste Element im abendländischen Gartenbilde ist mithin der
point de vue
der großen Rokokoparks, auf den sich ihre Alleen und beschnittenen Laubgänge öffnen und durch den sich der Blick in weite schwindende Fernen verliert. Er fehlt selbst der chinesischen Gartenkunst. Aber er hat ein vollkommenes Gegenstück in gewissen hellen, silbernen »Fernfarben« der pastoralen Musik des beginnenden 18. Jahrhunderts, bei Couperin z. B. Erst der
point de vue
gibt den Schlüssel zum Verständnis dieser seltsamen menschlichen Art, die Natur der symbolischen Formensprache einer Kunst zu unterwerfen. Die Auflösung endlicher Zahlengebilde in unendliche Reihen ist ein verwandtes Prinzip. Wie hier die Formel des Restgliedes den letzten Sinn der Reihe, so ist es dort der Blick ins Grenzenlose, der dem Auge des faustischen
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