Der Untergang des Abendlandes
Menschen den Sinn der Natur erschließt.
Wir
waren es und nicht die Hellenen, nicht die Menschen der Hochrenaissance, welche die unbegrenzten Fernsichten vom Hochgebirge aus schätzten und suchten. Das ist eine faustische Sehnsucht. Man will
allein
mit dem unendlichen Raume sein. Dies Symbol bis zum Äußersten zu steigern, war die große Tat der nordfranzösischen Gartenbaumeister, nach der epochemachenden Schöpfung Fouquets in Vaux-le-Vicomte vor allem Lenôtres. Man vergleiche den Renaissancepark der mediceischen Zeit mit seiner Übersichtlichkeit, seiner heitren Nähe und Rundung, dem Kommensurablen seiner Linien, Umrisse und Baumgruppen, mit diesem geheimen Zug in die Ferne, der alle Wasserkünste, Statuenreihen, Gebüsche, Labyrinthe bewegt, und man findet in diesem Stück Gartengeschichte das Schicksal der abendländischen Ölmalerei wieder.
Aber Ferne – das ist zugleich eine
historische
Empfindung. In der Ferne wird der Raum zur Zeit. Der Horizont bedeutet die Zukunft.
Der Barockpark ist der Park der späten Jahreszeit
, des nahen Endes, der fallenden Blätter. Ein Renaissancepark ist für den Sommer und den Mittag gedacht. Er ist zeitlos. Nichts in seiner Formensprache erinnert an Vergänglichkeit. Erst die Perspektive ruft die Ahnung von etwas Vergehendem, Flüchtigem, Letztem wach.
Schon das Wort »Ferne« hat in der abendländischen Lyrik aller Sprachen einen wehmütig herbstlichen Akzent, den man in der griechischen und lateinischen vergebens sucht. Man findet ihn schon in den ossianischen Gesängen Macphersons, bei Hölderlin, dann in Nietzsches Dionysos-Dithyramben, endlich bei Baudelaire, Verlaine, George und Droem. Die späte Poesie der welkenden Alleen, der endlosen Straßenzüge unserer Weltstädte, der Pfeilerreihen eines Domes, der Gipfel einer fernen Gebirgskette verrät noch einmal, daß das Tiefenerlebnis, das uns den Weltraum schafft, im letzten Grunde die innere Gewißheit eines Schicksals, einer vorbestimmten Richtung, der
Zeit,
des Unwiderruflichen ist. Hier, im Erlebnis des Horizontes als der Zukunft, tritt die Identität der Zeit mit der »dritten Dimension« des
erlebten
Raumes, des lebendigen Sichdehnens, unmittelbar zutage. Wir haben zuletzt auch das Straßenbild der großen Städte diesem Schicksalszuge des Versailler Parkes unterworfen und mächtige geradlinige, in der Ferne verschwindende Straßenfluchten angelegt, selbst unter Aufopferung althistorischer Viertel – deren Symbolik jetzt die geringere geworden war –, während antike Weltstädte mit ängstlicher Sorgfalt das Gewirr krummer Gäßchen vorschoben, damit der apollinische Mensch sich in ihnen als Körper unter Körpern fühle. [Vgl. Bd. II, S. 672ff.] Das praktische Bedürfnis war hier wie immer nur die Maske eines tiefinnerlichen Zwanges.
Der Horizont sammelt von nun an die tiefere Form, die volle metaphysische Bedeutung des Bildes in sich. Der greifbare und durch die Überschrift wiederzugebende
Inhalt,
der von der Renaissancemalerei betont und anerkannt worden war, wird nun zum
Mittel,
zum bloßen
Träger
der mit Worten nicht mehr zu erschöpfenden Bedeutung. Bei Mantegna und Signorelli hätte der gezeichnete Entwurf, auch ohne die farbige Ausführung, als Bild bestehen können. In einzelnen Fällen möchte man wünschen, es wäre bei den Kartons geblieben. In statuenhaften Entwürfen ist die Farbe lediglich eine Zugabe; Tizian aber mußte von Michelangelo den Vorwurf hören, daß er nicht zu zeichnen verstünde. Der »Gegenstand«, eben das, was sich durch Umrißzeichnung festhalten läßt, das Nahe, Stoffliche, hat seine künstlerische Wirklichkeit verloren, und von nun an herrscht in der Kunsttheorie, die unter Eindrücken der Renaissance stehen blieb, jener seltsame, nie endende, Streit um »Form« und »Inhalt« im Kunstwerk. Die Formulierung beruht auf einem Mißverständnis und hat den sehr bedeutenden Sinn der Frage verdeckt. Ob die Malerei plastisch oder musikalisch aufgefaßt werden solle, als Statik von Dingen oder als Dynamik des Raumes – denn darin liegt der tiefere Gegensatz von Fresko- und Öltechnik –, ist das erste, der Gegensatz apollinischen und faustischen Formgefühls das zweite, was zu erwägen war. Umrisse begrenzen Stoffliches, Farbentöne interpretieren Raum. [In der antiken Malerei sind Licht und Schatten zuerst von Zeuxis einheitlich angewandt worden, aber nur
als Schattierung der Dinge selbst
, um die Plastik der gemalten Leiber vom Reliefmäßigen zu befreien, und also ganz
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