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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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heilkräftig empfohlenes Verhalten, dessen Kenntnis als eine besondere Gnade [Vgl. Bd. II, S. 851 f.] verliehen wird, in der gotischen Frühzeit innerlich in eine befehlende umgeprägt worden . [»Wer Ohren hat zu hören, der höre« – darin liegt kein Machtanspruch. So hat die abendländische Kirche ihre Mission
nicht
aufgefaßt. Die »Heilsbotschaft« Jesu, die des Zarathustra, Mani, Mohammed, der Neuplatoniker und all der benachbarten magischen Religionen sind geheimnisvolle Wohltaten, die man
erweist
, nicht aufdrängt. Das junge Christentum ahmte, nachdem es in die antike Welt eingeströmt war, lediglich die Mission der späten, ebenfalls längst magisch gewordenen Stoa nach. Man mag Paulus zudringlich finden und man hat die stoischen Wanderprediger so gefunden, wie die Zeitliteratur beweist;
gebieterisch
treten sie nicht auf. Man kann ein entlegenes Beispiel hinzufügen und die Ärzte der magischen Art, die ihre geheimnisvollen Arkana anpreisen, den abendländischen gegenüberstellen, die ihrem Wissen
Gesetzeszwang verliehen sehen wollen
(Impfzwang, Trichinenschau usw.).] Jedes ethische System, ob religiöser oder philosophischer Herkunft, gehört damit in die Nachbarschaft der großen Künste, vor allem der Architektur. Es ist ein Bau von Sätzen kausaler Prägung. Jede Wahrheit, die zu praktischer Anwendung bestimmt ist, wird mit einem »weil« oder »damit« vorgeschrieben. Es ist mathematische Logik darin, in Buddhas vier Wahrheiten wie in Kants Kritik der praktischen Vernunft und in jedem volkstümlichen Katechismus. Nichts liegt diesen als wahr erkannten Lehren ferner als die unkritische Logik des Blutes, die aus jeder gewachsenen und nur durch Verstöße gegen sie zum Bewußtsein gelangenden
Sitte
von Ständen und Tatsachenmenschen redet, wie sie uns in der ritterlichen Zucht der Kreuzzugszeiten am deutlichsten vor Augen steht. Eine systematische Moral ist wie ein Ornament und offenbart sich nicht nur in Sätzen, sondern auch im tragischen Stil, selbst im künstlerischen Motiv. Der Mäander z. B. ist ein stoisches Motiv; in der dorischen Säule verkörpert sich geradezu das antike Lebensideal. Sie ist
deshalb
die einzige der antiken Säulenformen, welche der Barockstil unbedingt ausschließen mußte. Man wird sie aus einem sehr tief hegenden seelischen Grunde selbst in der Renaissancekunst vermieden finden. Die Umsetzung des magischen Kuppelbaues in den russischen mit dem Symbol der Dachebene, [Vgl. Bd. I, S. 259f.] die chinesische Landschaftsarchitektur mit ihren verschlungenen Pfaden, der gotische Turm der Kathedralen sind ebensoviele Sinnbilder der aus dem Wachsein einer und nur dieser einen Kultur entstandenen Moral.
11
    Jetzt lösen sich uralte Rätsel und Verlegenheiten. Es gibt so viel Moralen, als es Kulturen gibt, nicht mehr und nicht weniger. Niemand hat hier eine freie Wahl. So gewiß es für jeden Maler und Musiker etwas gibt, das ihm infolge der Wucht einer inneren Notwendigkeit gar nicht zum Bewußtsein kommt, das die Formensprache seiner Werke von vornherein beherrscht und sie von den künstlerischen Leistungen
aller
anderen Kulturen unterscheidet, so gewiß hat
jede
Lebensauffassung eines Kulturmenschen von vornherein, a priori in Kants strengstem Sinne, eine Beschaffenheit, die noch tiefer liegt als alles augenblickliche Urteilen und Streben und die ihren Stil als den einer bestimmten Kultur erkennen läßt. Der einzelne kann moralisch oder unmoralisch handeln, »gut« oder »böse« aus dem Urgefühl seiner Kultur heraus, aber die Theorie seines Handelns ist schlechthin gegeben. Jede Kultur hat dafür ihren eigenen Maßstab, dessen Gültigkeit mit ihr beginnt und endet. Es gibt keine allgemein menschliche Moral.
    Es gibt also im tiefsten Sinne auch keine wahre Bekehrung und kann keine geben. Jede bewußte Art des Sichverhaltens auf Grund von Überzeugungen ist ein Urphänomen, die zur »zeitlosen Wahrheit« gewordene Grundrichtung eines Daseins. Unter was für Worten und Bildern man sie zum Ausdruck bringt, ob als Satzung einer Gottheit oder als Ergebnis philosophischen Nachdenkens, ob in Sätzen oder Symbolen, ob als Verkündung eigner Gewißheit oder als Widerlegung einer fremden, macht wenig aus; genug, daß sie vorhanden ist. Man kann sie wecken und theoretisch in eine Lehre fassen, ihren geistigen Ausdruck verändern und verdeutlichen; erzeugen kann man sie nicht. So wenig wir imstande sind, unser Weltgefühl zu ändern – so wenig, daß selbst der Versuch einer Änderung

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