Der Untergang des Abendlandes
Vordergrund zu stellen, das den eigenen Absichten zufällig am besten entsprach, Nietzsche das vorsokratische Athen, Nationalökonomen die hellenistische Periode, Politiker das republikanische Rom und Dichter die Kaiserzeit.
Nicht als
ob
religiöse oder künstlerische Erscheinungen ursprünglicher wären als soziale und wirtschaftliche. Es ist weder so noch umgekehrt. Es gibt für den, der hier die unbedingte Freiheit des Blickes erworben hat, jenseits
aller
persönlichen Interessen welcher Art auch immer, überhaupt keine Abhängigkeit, keine Priorität, kein Verhältnis von Ursache und Wirkung, keinen Unterschied des Wertes und der Wichtigkeit. Was den einzelnen Tatsachen ihren Rang gibt, ist lediglich die größere oder geringere Reinheit und Kraft ihrer Formensprache, die Stärke ihrer Symbolik – jenseits von gut und böse, hoch und niedrig, Nutzen und Ideal.
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Der Untergang des Abendlandes, so betrachtet, bedeutet nichts Geringeres als das
Problem der Zivilisation
. Eine der Grundfragen aller höheren Geschichte liegt hier vor. Was ist Zivilisation, als organisch-logische Folge, als Vollendung und Ausgang einer Kultur begriffen?
Denn jede Kultur hat ihre
eigne
Zivilisation. Zum ersten Male werden hier die beiden Worte, die bis jetzt einen unbestimmten Unterschied ethischer Art zu bezeichnen hatten, in periodischem Sinne, als Ausdrücke für ein strenges und notwendiges
organisches Nacheinander
gefaßt. Die Zivilisation ist das unausweichliche
Schicksal
einer Kultur. Hier ist der Gipfel erreicht, von dem aus die letzten und schwersten Fragen der historischen Morphologie lösbar werden. Zivilisationen sind die
äußersten
und
künstlichsten
Zustände, deren eine höhere Art von Menschen fähig ist. Sie sind ein Abschluß; sie folgen dem Werden als das Gewordene, dem Leben als der Tod, der Entwicklung als die Starrheit, dem Lande und der seelischen Kindheit, wie sie Dorik und Gotik zeigen, als das geistige Greisentum und die steinerne, versteinernde Weltstadt. Sie sind ein
Ende
, unwiderruflich, aber sie sind mit innerster Notwendigkeit immer wieder erreicht worden.
Damit erst wird man den Römer als den
Nachfolger
des Hellenen verstehen. Erst so rückt die späte Antike in das Licht, das ihre tiefsten Geheimnisse preisgibt. Denn was hat es zu bedeuten – was man nur mit leeren Worten bestreiten kann –, daß die Römer Barbaren gewesen sind, Barbaren, die einem großen Aufschwung nicht vorangehen, sondern ihn beschließen? Seelenlos, unphilosophisch, ohne Kunst, rassehaft bis zum Brutalen, rücksichtslos auf reale Erfolge haltend, stehen sie zwischen der hellenischen Kultur und dem Nichts. Ihre nur auf das Praktische gerichtete Einbildungskraft – sie besaßen ein sakrales Recht, das die Beziehungen zwischen Göttern und Menschen wie zwischen Privatpersonen regelte, aber keine einzige echt römische Göttersage – ist ein Zug, den man in Athen überhaupt nicht antrifft. Griechische Seele und römischer Intellekt – das ist es. So unterscheiden sich Kultur und Zivilisation. Und das gilt nicht nur von der Antike. Immer wieder taucht dieser Typus starkgeistiger, vollkommen unmetaphysischer Menschen auf. In ihren Händen liegt das geistige und materielle Geschick einer jeden Spätzeit. Sie haben den babylonischen, ägyptischen, indischen, chinesischen, römischen Imperialismus durchgeführt. In solchen Zeiten sind der Buddhismus, Stoizismus und Sozialismus zu endgültigen Weltstimmungen herangereift, die ein erlöschendes Menschentum in seiner ganzen Substanz noch einmal zu ergreifen und umzugestalten vermögen. Die
reine
Zivilisation als historischer Vorgang besteht in einem stufenweisen
Abbau
anorganisch gewordener, erstorbener Formen.
Der Übergang von der Kultur zur Zivilisation vollzieht sich in der Antike im 4., im Abendland im 19. Jahrhundert. Von da an fallen die großen geistigen Entscheidungen nicht mehr wie zur Zeit der orphischen Bewegung und der Reformation in der »ganzen Welt«, in der schließlich kein Dorf ganz unwichtig ist, sondern in drei oder vier Weltstädten, die allen Gehalt der Geschichte in sich aufgesogen haben und denen gegenüber die gesamte Landschaft einer Kultur zum Range der Provinz herabsinkt, die ihrerseits nur noch die Weltstädte mit den Resten ihres höheren Menschentums zu nähren hat.
Weltstadt und Provinz
[Vgl. Bd. II, S. 673 ff.] – mit diesen Grundbegriffen jeder Zivilisation tritt ein ganz neues Formproblem der Geschichte hervor, das wir Heutigen gerade
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