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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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durchleben, ohne es in seiner ganzen Tragweite auch nur entfernt begriffen zu haben. Statt einer Welt eine
Stadt
, ein
Punkt
, in dem sich das ganze Leben weiter Länder sammelt, während der Rest verdorrt; statt eines formvollen, mit der Erde verwachsenen Volkes ein neuer Nomade, ein Parasit, der Großstadtbewohner, der reine, traditionslose, in formlos fluktuierender Masse auftretende Tatsachenmensch, irreligiös, intelligent, unfruchtbar, mit einer tiefen Abneigung gegen das Bauerntum (und dessen höchste Form, den Landadel), also ein ungeheurer Schritt zum Anorganischen, zum Ende – was bedeutet das? Frankreich und England haben diesen Schritt vollzogen und Deutschland ist im Begriff, ihn zu tun. Auf Syrakus, Athen, Alexandria folgt Rom. Auf Madrid, Paris, London folgen Berlin und New York. Provinz zu werden ist das Schicksal ganzer Länder, die nicht im Strahlenkreis einer dieser Städte liegen wie damals Kreta und Makedonien, heute der skandinavische Norden. [Was man in der Entwicklung Strindbergs und vor allem Ibsens, der in der zivilisierten Atmosphäre seiner Probleme immer nur Gast gewesen ist, nicht übersehen wird. Die Motive von »Brand« und »Rosmersholm« sind eine merkwürdige Mischung von angeborenem Provinzialismus und theoretisch erworbenem Weltstadthorizont. Nora ist das Urbild einer durch Lektüre aus der Bahn geratenen Provinzlerin.]
    Ehemals spielte sich der Kampf um die Fassung der Idee einer Epoche auf dem Boden metaphysischer, kultisch oder dogmatisch geprägter Weltprobleme zwischen dem erdhaften Geiste des Bauerntums (Adel und Priestertum) und dem »weltlichen« patrizischen Geiste der alten, kleinen, berühmten Städte der dorischen und gotischen Frühzeit ab. Dergestalt waren die Kämpfe um die Dionysosreligion – z. B. unter dem Tyrannen Kleisthenes von Sikyon [Der den Kult des Stadtheros Adrastos und den Vortrag der homerischen Gesänge verbot, um dem dorischen Adel die Wurzeln seines Seelentums zu nehmen (um 560).] – und um die Reformation in den deutschen Reichsstädten und den Hugenottenkriegen. Aber wie diese Städte zuletzt das Land überwanden – ein rein städtisches Weltbewußtsein begegnet schon bei Parmenides und Descartes –, so überwindet die Weltstadt sie. Das ist der geistige Prozeß aller Spätzeiten, der Ionik wie des Barock. Heute wie zur Zeit des Hellenismus, an dessen Schwelle die Gründung einer künstlichen, also landfremden Großstadt, Alexandrias, steht, sind diese Kulturstädte – Florenz, Nürnberg, Salamanca, Brügge, Prag – Provinzstädte geworden, die gegen den Geist der Weltstädte einen hoffnungslosen inneren Widerstand leisten. Die Weltstadt bedeutet den Kosmopolitismus an Stelle der »Heimat«, [Ein tiefes Wort, das seinen Sinn erhält, sobald der Barbar zum Kulturmenschen wird, und ihn wieder verliert, sobald der zivilisierte Mensch das »
ubi bene, ibi patria
« zum Wahlspruch erhebt.] den kühlen Tatsachensinn an Stelle der Ehrfurcht vor dem Überlieferten und Gewachsenen, die wissenschaftliche Irreligion als Petrefakt der voraufgegangenen Religion des Herzens, die »Gesellschaft« an Stelle des Staates, die natürlichen statt der erworbenen Rechte. Das
Geld
als anorganische, abstrakte Größe, von allen Beziehungen zum Sinn des fruchtbaren Bodens, zu den Werten einer ursprünglichen Lebenshaltung gelöst – das haben die Römer vor den Griechen voraus. Von hier an ist eine vornehme Weltanschauung
auch eine Geldfrage
. Nicht der griechische Stoizismus des Chrysipp, aber der spätrömische des Cato und Seneca setzt als Grundlage ein Vermögen voraus, [Deshalb verfielen dem Christentum zuerst die Römer, die es
sich nicht leisten konnten
, Stoiker zu sein. Vgl. Bd. II, S. 1165 f.] und nicht die sozialethische Gesinnung des 18. Jahrhunderts, aber die des 20. ist, wenn sie über eine berufsmäßige – einträgliche – Agitation hinaus Tat werden will, eine Sache für Millionäre. Zur Weltstadt gehört nicht ein Volk, sondern eine
Masse
. Ihr Unverständnis für alles Überlieferte, in dem man die Kultur bekämpft (den Adel, die Kirche, die Privilegien, die Dynastie, in der Kunst die Konventionen, in der Wissenschaft die Grenzen der Erkenntnismöglichkeit), ihre der bäuerlichen Klugheit überlegene scharfe und kühle Intelligenz, ihr Naturalismus in einem ganz neuen Sinne, der über Sokrates und Rousseau weit zurück in bezug auf alles Sexuelle und Soziale an urmenschliche Instinkte und Zustände anknüpft, das
panem et circenses
, das

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