Der Untergang des Abendlandes
und empfing den abstrakten Charakter des fugierten Stils; im 19., wo die Kunst zu Ende geht und die zivilisierte Intelligenz das Seelenhafte überwältigt, erscheint er in der Sphäre der reinen Analysis, und zwar insbesondere der Theorie der Funktionen von mehreren komplexen Variablen, ohne die er sich in seiner modernsten Bedeutung kaum mehr verständlich machen läßt.
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Damit aber ist – darüber täusche sich niemand – die westeuropäische Physik nahe an die Grenzen ihrer inneren Möglichkeiten gelangt. Der letzte Sinn ihrer geschichtlichen Erscheinung war, das faustische Naturgefühl in begriffliche Erkenntnis, die Gestalten eines frühzeitlichen Glaubens in mechanische Formen eines exakten Wissens zu verwandeln. Daß die einstweilen noch gewaltig zunehmende Gewinnung praktischer oder auch nur gelehrter Ergebnisse – beides gehört an sich zur Oberflächengeschichte einer Wissenschaft; zur Tiefe gehört allein die Geschichte ihrer Symbolik und ihres Stils – mit der raschen Zersetzung ihres Wesenskerns nichts zu tun hat, braucht kaum gesagt zu werden. Bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts erfolgen alle Schritte in der Richtung einer inneren Vollendung, einer wachsenden Reinheit, Schärfe und Fülle des dynamischen Naturbildes; von da an, wo ein Optimum von Deutlichkeit im Theoretischen erreicht ist, beginnen sie plötzlich auflösend zu wirken. Das geschieht nicht absichtlich; das kommt den hohen Intelligenzen der modernen Physik nicht einmal zum Bewußtsein. Darin liegt eine unabwendbare historische Notwendigkeit. Die antike Physik hatte sich in demselben Stadium, um 200 v. Chr., innerlich vollendet. Die Analysis kam mit Gauß, Cauchy und Riemann zum Ziel und füllt heute nur noch die Lücken ihres Gebäudes aus.
Daher erheben sich plötzlich vernichtende Zweifel an Dingen, die noch gestern das unbestrittene Fundament der physikalischen Theorie bildeten, am Sinne des Energieprinzips, am Begriff der Masse, des Raumes, der absoluten Zeit, des kausalen Naturgesetzes überhaupt. Das sind nicht mehr jene schöpferischen Zweifel des frühen Barock, die einem Erkenntnisziel entgegenführen; diese Zweifel gelten der Möglichkeit einer Naturwissenschaft überhaupt. Welche tiefe und von ihren Urhebern offenbar gar nicht gewürdigte Skepsis liegt allein in der rasch zunehmenden Benützung abzählender, statistischer Methoden, die nur eine Wahrscheinlichkeit der Ergebnisse erstreben und die absolute Exaktheit der Naturgesetze, wie man sie früher hoffnungsvoll verstand, ganz aus dem Spiele lassen!
Wir nähern uns dem Augenblick, wo man die Möglichkeit einer geschlossenen und in sich widerspruchslosen Mechanik endgültig aufgibt. Ich hatte gezeigt, wie jede Physik am Bewegungsproblem scheitern muß, in welchem die lebendige Person des Erkennenden in die anorganische Formenwelt des Erkannten methodisch hereinragt. Aber alle neuesten Hypothesen enthalten diese Verlegenheit in einer nach dreihundertjähriger Denkarbeit erzielten äußersten Zuspitzung, die keine Täuschung mehr zuläßt. Die Gravitationstheorie, seit Newton eine unumstößliche Wahrheit, ist als eine zeitlich beschränkte und schwankende Annahme erkannt worden. Das Prinzip der Erhaltung der Energie hat keinen Sinn, wenn die Energie unendlich in einem unendlichen Raume gedacht wird. Die Annahme des Prinzips läßt sich mit keiner Art von dreidimensionaler Struktur des Weltraums, weder der unendlichen euklidischen, noch (unter den nichteuklidischen Geometrien) der sphärischen mit ihrem unbegrenzten, aber endlichen Volum vereinen. Seine Gültigkeit wird also auf ein »nach außen abgeschlossenes System von Körpern« beschränkt, eine künstliche Begrenzung, die es in Wirklichkeit nicht gibt und nicht geben kann. Aber das Weltgefühl des faustischen Menschen, aus dem diese grundlegende Vorstellung –
die Unsterblichkeit der Weltseele, mechanistisch und extensiv umgedacht
– hervorging, hatte gerade die symbolische Unendlichkeit ausdrücken wollen. So
fühlte
man, aber das Erkennen vermochte daraus kein reines System zu gestalten. Es war ferner der Lichtäther ein ideales Postulat der modernen Dynamik, die zu jeder Bewegung die Vorstellung eines Bewegten forderte. Aber jede denkbare Hypothese über die Beschaffenheit des Äthers wurde sofort durch innere Widersprüche widerlegt. Insbesondere hat Lord Kelvin mathematisch nachgewiesen, daß es eine einwandfreie Struktur dieses Lichtträgers nicht geben
kann
. Da Lichtwellen nach der Interpretation der
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