Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
Vom Netzwerk:
das bedeutet. Die Statistik gehört wie die Chronologie ins Gebiet des Organischen, zum wechselnd bewegten Leben, zu Schicksal und Zufall und nicht zur Welt der Gesetze und der zeitlosen Kausalität. Man weiß, daß sie vor allem zur Charakteristik politischer und wirtschaftlicher, also geschichtlicher Entwicklungen dient. In der klassischen Mechanik Galileis und Newtons wäre für sie kein Platz gewesen. Was hier plötzlich statistisch erfaßt und erfaßbar wird, mit Wahrscheinlichkeit statt mit jener apriorischen Exaktheit, die alle Denker des Barock einstimmig gefordert hatten, ist der Mensch selbst, der diese Natur erkennend durchlebt, der in ihr sich selbst erlebt; was die
Theorie
mit innerer Notwendigkeit hinstellt, jene in Wirklichkeit gar nicht vorhandenen umkehrbaren Prozesse, repräsentiert den Rest einer strenggeistigen Form, den Rest der großen Barocktradition, welche die Schwester des kontrapunktischen Stils war. Die Zuflucht zur Statistik offenbart die Erschöpfung der in dieser Tradition wirksam gewesenen ordnenden Kraft. Werden und Gewordnes, Schicksal und Kausalität, historische und naturhafte Elemente beginnen zu verschwimmen. Formelemente des Lebens: das Wachstum, das Altern, die Lebensdauer, die Richtung, der Tod drängen herauf.
    Das hat in diesem Aspekt die Nichtumkehrbarkeit der Weltprozesse zu bedeuten. Sie ist, im Gegensatz zu dem physikalischen Zeichen t, Ausdruck der echten,
historischen
, innerlich erlebten Zeit, die mit dem
Schicksal
identisch ist.
    Die Physik des Barock war durch und durch
strenge Systematik
, solange Theorien wie diese noch nicht an ihrem Bau rütteln durften, solange in ihrem Bilde nichts anzutreffen war, was den Zufall und die bloße Wahrscheinlichkeit zum Ausdruck brachte. Mit dieser Theorie aber ist sie
Physiognomik
geworden. Der »Lauf der Welt« wird verfolgt. Die
Idee des Weltendes
erscheint in der Verkleidung von Formeln, die im Grunde ihres Wesens keine Formeln mehr sind. Es kommt damit etwas Goethesches in die Physik, und man wird das ganze Gewicht dieser Tatsache ermessen, wenn man sich klarmacht, was zuletzt die leidenschaftliche Polemik Goethes gegen Newton in der Farbenlehre bedeutete. Hier argumentierte das Schauen gegen den Verstand, das Leben gegen den Tod, die schöpferische Gestalt gegen das ordnende Gesetz. Die kritische Formenwelt der Natur
erkenntis
war aus dem Natur
gefühl
, dem Gottgefühl, durch Widerspruch hervorgegangen. Hier, am Ausgang der Spätzeit, hat sie den Gipfel der Distanz erreicht, und sie kehrt zum Ursprung zurück.
    Und so beschwört die in der Dynamik wirksame Einbildungskraft noch einmal die großen Symbole der historischen Leidenschaft des faustischen Menschen herauf, die ewige Sorge, den Hang zu den fernsten Fernen von Vergangenheit und Zukunft, die rückschauende Geschichtsforschung, den vorausschauenden Staat, die Beichten und Selbstbetrachtungen, die über alle Völker weithinhallenden, das Leben messenden Glockenschläge. Das Ethos des Wortes Zeit, wie nur wir es empfinden, wie es die instrumentale Musik im Gegensatz zur Statuenplastik erfüllt, richtet sich auf ein
Ziel
. Das war in allen Lebensbildern des Abendlandes als drittes Reich, als neues Zeitalter, als Aufgabe der Menschheit, als Ausgang einer Entwicklung versinnlicht worden. Und das bedeutet für das Gesamtdasein und das Schicksal der faustischen Welt als Natur die Entropie.
    Schon in dem mythischen Begriff der Kraft, der Voraussetzung dieser ganzen dogmatischen Formenwelt, liegt stillschweigend ein Richtungsgefühl, eine Beziehung auf Vergangenes und Künftiges; noch deutlicher wird sie in der Bezeichnung der Naturvorgänge als Prozesse. Es darf also gesagt werden, daß die Entropie als die geistige Form, in welcher die unendliche Summe aller Naturereignisse als
historische und physiognomische Einheit
zusammengefaßt wird, allen physikalischen Begriffsbildungen von Anfang an unbemerkt zugrunde lag, und daß sie eines Tages als »Entdeckung« auf dem Wege wissenschaftlicher Induktion zum Vorschein kommen und dann durch die übrigen theoretischen Elemente des Systems »durchaus bestätigt« werden mußte. Je mehr die Dynamik sich durch Erschöpfung ihrer inneren Möglichkeiten dem Ziele nähert, desto entschiedener dringen die historischen Züge des Bildes hervor, desto stärker macht sich neben der anorganischen Notwendigkeit des Kausalen die organische des Schicksals, neben den Faktoren der reinen Ausgedehntheit – Kapazität und Intensität – die der

Weitere Kostenlose Bücher