Der Untergang des Abendlandes
sollen Wirkungen einer Zentrifugalkraft sein. Aber dann müßten die Körper aus ihrer Bahn geschleudert werden, und da dies nicht der Fall ist, nimmt man noch eine Zentripetalkraft an. Aber was bedeuten diese Worte? Eben die Unmöglichkeit, hier Ordnung und Klarheit zu schaffen, hatte Heinrich Hertz bewogen, auf den Kraftbegriff überhaupt zu verzichten und sein System der Mechanik durch die äußerst künstliche Annahme von festen Koppelungen zwischen Lagen und Geschwindigkeiten auf das Prinzip der Berührung (Stoß) zurückzuführen. Aber damit sind die Verlegenheiten nur verdeckt, nicht behoben. Sie sind spezifisch faustischer Natur und wurzeln im tiefsten Wesen der Dynamik. »Dürfen wir von Kräften reden, welche erst durch Bewegung entstehen?« Gewiß nicht. Aber können wir auf die dem abendländischen Geist
eingebornen Urbegriffe
verzichten, obwohl sie undefinierbar sind? Hertz selbst hat keinen Versuch gemacht, sein System praktisch in Anwendung zu bringen.
Diese
symbolische
Verlegenheit der modernen Mechanik wird durch die von Faraday begründete Potentialtheorie – nachdem der Schwerpunkt des physikalischen Denkens aus der Dynamik der Materie in die Elektrodynamik des Äthers gerückt war – keineswegs beseitigt. Der berühmte Experimentator, der durchaus Visionär und unter allen Meistern der neuern Physik der einzige Nichtmathematiker war, bemerkte 1846: »Ich nehme in irgend einem Teil des Raumes, mag er nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch leer oder von Materie erfüllt sein, nichts wahr als Kräfte und die Linien, in denen sie ausgeübt werden.« In dieser Beschreibung tritt die ihrem Gehalt nach heimlich organische, historische, das Erlebnis des Erkennenden bezeichnende Richtungstendenz deutlich hervor; damit knüpft Faraday metaphysisch an Newton an, dessen Fernkräfte auf einen mythischen Hintergrund hindeuteten, dessen Kritik der fromme Physiker ausdrücklich ablehnte. Der zweite noch mögliche Weg, zu einem eindeutigen Begriff der Kraft zu gelangen – von der »Welt«, nicht von »Gott«, vom Objekt, nicht vom Subjekt des natürlichen Bewegtseins aus –, führte eben damals zur Aufstellung des Begriffs der
Energie
, die im Unterschiede von der Kraft ein Quantum des Gerichtetseins, keine Richtung darstellt und insofern an Leibniz und an dessen Idee der lebendigen Kraft mit ihrer unveränderlichen Quantität anknüpft; man sieht, daß hier wesentliche Merkmale des Massebegriffs herübergenommen worden sind, derart, daß sogar der bizarre Gedanke einer atomistischen Struktur der Energie in Erwägung gezogen worden ist.
Indessen ist mit der Neuordnung der Grundworte das Gefühl vom Vorhandensein einer Weltkraft und ihres Substrats nicht verändert und damit die Unlösbarkeit des Bewegungsproblems nicht widerlegt worden. Was sich auf dem Wege von Newton zu Faraday – oder von Berkeley zu Mill – zugetragen hat, ist der Ersatz des religiösen Tatbegriffs durch den irreligiösen Begriff der Arbeit. [Vgl. Bd. I, S. 454.] Im Naturbilde Brunos, Newtons, Goethes wirkt sich etwas Göttliches in Taten aus; im Weltbilde der modernen Physik
leistet die Natur Arbeit
. Das bedeutet die Auffassung, wonach jeder »Prozeß« im Sinne des ersten Hauptsatzes der mechanischen Wärmetheorie am Energieverbrauch meßbar ist, dem ein geleistetes Arbeitsquantum in Gestalt von gebundener Energie entspricht.
Die entscheidende Entdeckung J. R. Mayers fällt deshalb mit der Geburt der sozialistischen Theorie zusammen. Auch die nationalökonomischen Systeme schalten mit denselben Begriffen; seit Adam Smith wird das Wertproblem mit dem
Arbeitsquantum
in Beziehung gebracht; [Vgl. Bd. II, S. 1177.] das ist Quesney und Turgot gegenüber der Schritt von einer organischen zu einer mechanischen Struktur des Wirtschaftsbildes. Was hier als »Arbeit« der Theorie zugrunde liegt, ist rein dynamisch gemeint, und man könnte zu den physikalischen Prinzipien der Erhaltung der Energie, der Entropie, der kleinsten Wirkung die genau entsprechenden der Nationalökonomie auffinden.
Betrachtet man demnach die Stufen, welche der zentrale Begriff der Kraft seit seiner Geburt im frühen Barock durchlaufen hat, und zwar in genauester Verwandtschaft mit den Formenwelten der großen Künste und der Mathematik, so findet man drei: Im 17. Jahrhundert (Galilei, Newton, Leibniz) trat er bildhaft ausgeprägt neben die große Ölmalerei, die um 1680 erlosch; im 18., dem der klassischen Mechanik (Laplace, Lagrange), stand er neben der Musik Bachs
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