Der Untergang des Abendlandes
ohne Beispiel und meldet sich auf allen Gebieten. Gewiß, der ionische Stil ist in Karthago und Persepolis nachgeahmt worden; der hellenistische Geschmack hat in der indischen Gandarakunst Bewunderer gefunden; wieviel Chinesisches in die urgermanische Holzbaukunst des hohen Nordens gedrungen ist, wird vielleicht eine künftige Forschung aufdecken. Der Moscheenstil herrschte von Hinterindien bis in das nördliche Rußland und das westliche Afrika und Spanien. Aber alles das verschwindet gegen die Expansionskraft der abendländischen Stile. Es ist selbstverständlich, daß die Stilgeschichte selbst sich nur auf ihrem Mutterboden vollendet, aber ihre Resultate erkennen keine Grenze an. Auf dem Platz, wo Tenochtitlan gestanden hatte, errichteten die Spanier eine Kathedrale im Barockstil mit Meisterwerken der spanischen Malerei und Plastik; die Portugiesen haben bereits in Vorderindien, italienische und französische Baumeister des späten Barock tief in Polen und Rußland gearbeitet. Das englische Rokoko und vor allem Empire besitzt eine weite Provinz in den Pflanzerstaaten Nordamerikas, deren wundervolle Zimmer und Möbel in Deutschland viel zu wenig bekannt sind. Der Klassizismus wirkte bereits in Kanada und am Kap; seitdem gibt es keine Schranke mehr. Und auch auf jedem andern Formgebiet bestand die Beziehung dieser jungen zu den alten noch bestehenden Zivilisationen darin, daß sie sie sämtlich durch eine immer dichtere Schicht westeuropäisch-amerikanischer Lebensformen überdeckte, unter denen die alte eigne Form langsam dahinschwindet.
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Vor diesem Bilde der Menschenwelt, welches bestimmt ist, das heute noch in den besten Köpfen befestigte von Altertum, Mittelalter und Neuzeit abzulösen, wird auch eine neue und, wie ich glaube, für unsere Zivilisation endgültige Antwort auf die alte Frage möglich: Was ist Geschichte?
Ranke (im Vorwort zu seiner Weltgeschichte) sagt: »Die Geschichte beginnt erst, wo die Monumente verständlich werden und glaubwürdige schriftliche Aufzeichnungen vorliegen.« Das ist die Antwort eines Sammlers und Ordners von Daten. Ohne Zweifel ist hier das, was geschehen ist, mit dem verwechselt worden, was innerhalb des Blickfeldes der jeweiligen Geschichtsforschung geschehen ist. Daß Mardonios bei Platää geschlagen wurde – hat das aufgehört Geschichte zu sein, wenn 2000 Jahre später ein Gelehrter davon nichts mehr weiß? Ist das Leben nur dann eine Tatsache, wenn in Büchern davon geredet wird?
Der bedeutendste Historiker seit Ranke, Ed. Meyer, [Zur Theorie und Methodik der Geschichte, Kl. Schr. (1910), bei weitem das beste Stück Geschichtsphilosophie, das ein Gegner aller Philosophie geschrieben hat.] sagt: »Historisch ist, was wirksam ist oder gewesen ist ... Erst durch die historische Betrachtung wird der Einzelvorgang, den sie aus der unendlichen Masse gleichzeitiger Vorgänge heraushebt, zu einem historischen Ereignis.« Das ist ganz im Geschmack und Geiste Hegels gesagt. Es kommt erstens auf die Tatsachen an und nicht auf unser zufälliges Wissen davon. Gerade das neue Bild der Geschichte zwingt uns, Tatsachen ersten Ranges in großen Folgen als vorhanden anzunehmen, von denen wir im Gelehrtensinne nie etwas wissen werden. Wir müssen lernen, im weitesten Umfange mit dem Unbekannten zu rechnen. Und zweitens: Wahrheiten gibt es für den Geist; Tatsachen gibt es nur in bezug auf das Leben. Historische Betrachtung, in meiner Ausdrucksweise
physiognomischer Takt:
das ist die Entscheidung des
Blutes
, die auf Vergangenheit und Zukunft erweiterte
Menschenkenntnis
, der angeborne Blick für Personen und Lagen, für das, was Ereignis, was notwendig war, was dagewesen sein
muß
, und
nicht
die bloße wissenschaftliche Kritik und Kenntnis von Daten. Die
wissenschaftliche
Erfahrung kommt bei jedem echten Historiker nebenher oder nachher. Sie beweist mit den Mitteln des Verstehens und Mitteilens umständlich noch einmal, und zwar für das Wachsein, was in
einem
Augenblick der Erleuchtung für das Dasein schon bewiesen war.
Gerade weil die Gewalt des faustischen Daseins heute einen Umkreis innerer Erfahrungen herausgebildet hat, wie sie nie ein anderer Mensch und nie eine andere Zeit erwerben konnten, gerade weil für uns in immer wachsendem Maße fernste Ereignisse einen Sinn und eine Beziehung erhalten, der für alle andern und auch die nächsten Miterlebenden nicht vorhanden sein
konnte
, ist heute für uns vieles Geschichte, nämlich Leben im Einklang mit unserm Leben geworden,
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