Wie die Menschheit zur Sprache fand
Vorwort
Die Frage nach den Anfängen von Sprache ist in vielerlei Hinsicht eine Herausforderung: intellektuell, philosophisch wie emotional. Offenkundig setzen Ãberlegungen zum Ursprung des Menschen, seiner Intelligenz und seiner Einzigartigkeit als Spezies fast zwangsläufig leidenschaftliche Debatten in Gang. Dies zeigt sich auch an den polarisierenden Fragen, die gegenwärtig im Raum stehen: Reichen die Wurzeln der Sprache bereits Millionen Jahre zurück, und hat sie sich ganz allmählich herausgebildet, oder ist sie erst vor Kurzem, mehr oder weniger über Nacht, entstanden? Hat sie sich bei unseren Vorfahren aus Tierlauten entwickelt oder etwa aus Gesten? Ist Sprache hauptsächlich als Werkzeug des Denkens entstanden, oder stand sie schon immer im Dienste der sozialen Kommunikation? Und welche Beziehung besteht zwischen Sprache und Musik?
Theorien und Gegentheorien in Fülle. Ich bin der Ansicht, dass die meisten Forscher an der falschen Stelle auf der Zeitachse nach den Ursprüngen von Sprache suchen - sie haben in der Regel die Evolution des Homo sapiens im Visier, die erst in den letzten 200 000 Jahren stattgefunden hat - und übersehen damit ein entscheidendes Puzzleteilchen. In diesem Buch wollen wir weiter zurückblicken. Der Schlüssel zum Verständnis der Ursprünge von Sprache findet sich nicht in der Zeit nach der Entstehung einer Protosprache (etwa zwei Millionen Jahre vor unserer Zeit), sondern vielmehr davor - in jener geheimnisvollen Ãbergangsphase zwischen der Abspaltung unserer frühesten Vorfahren von der Linie der übrigen Primaten (vor fünf bis sieben Millionen Jahren) und den allerersten Lauten jener Ursprache.
Wichtiger noch, viele Forscher übersehen, wie viele Hinweise auf die Mechanismen der Sprachentstehung wir aus dem alltäglichen Umgang mit Säuglingen und Kleinkindern erhalten. Wenn ein Kind sprechen lernt, reden seine Eltern in einer ganz bestimmten Weise mit ihm: in Kinder- oder Ammensprache (im Englischen motherese, hin und wieder eingedeutscht als »Mutterisch«). Manche Linguisten vertreten den Standpunkt, eine solche Ammensprache erfreue sich keiner allgemeinen Verbreitung, aber ich werde zeigen, dass sie in allen Gesellschaften vorkommt, wenn auch manchmal in verkleideter Form - maÃgeschneidert, um bestimmten kulturellen Praktiken und Tabus gerecht zu werden.
Einer der Gründe dafür, dass wir die Rolle der Ammensprache für die Sprachentwicklung lange missverstanden haben, mag mit unserem Männer- beziehungsweise Frauenbild zu tun haben. Spätestens seit den Tagen Charles Darwins hat man Männer aufgrund des hauptsächlich ihnen zugeschriebenen Wirkungskreises Jagd, Kampf und Werkzeugherstellung als primäre Motoren der Evolution betrachtet. Erst in jüngerer Zeit werden auch Frauen als evolutionäre Triebfedern geehrt, denn sie haben Nahrung gesammelt und ihren Töchtern beim Aufziehen des Nachwuchses geholfen. Doch trotz langjähriger intensiver Forschungen zu den Ursprüngen von Sprache gibt es nicht viele Studien, die danach fragen, woher eigentlich die Ammensprache kommt und welche Bedeutung sie hat. Dieses Buch beschreibt, wie die Ammensprache Babys auf der ganzen Welt vom Augenblick der Geburt bis ins Kleinkindalter beim Sprechenlernen hilft - und was wir aus diesen Beobachtungen über die Entstehung von Sprache bei unserer Art erfahren.
Angefangen von den fossilen Zeugnissen unserer Vorfahren bis hin zu den jüngsten Erkenntnissen der Kindesentwicklung möchte ich in diesem Buch ein neues Bild von den Ursprüngen der Sprache zeichnen. Fossile Funde zeigen, dass sich ein evolutionäres Problem ergab, als unsere Vorfahren auf zwei Beinen
zu gehen begannen: Die durch den aufrechten Gang bedingte Verengung des Geburtskanals machte es schmerzhaft und gefährlich, Kinder zu gebären. Wie so oft wurde diese unerquickliche Situation durch einen evolutionären Balanceakt gelöst: Nur die kleineren, weniger weit entwickelten Kinder (und die Mütter dieser Kinder) überlebten die Feuerprobe einer Geburt. Aufgrund ihrer körperlichen Unreife ging diesen Kindern jedoch die Fähigkeit ab, sich ohne Hilfe an den Müttern festzuhalten - etwas, das Affenjunge sehr rasch lernen. Vor der Erfindung von Tragehilfen hatten Frauen keine andere Wahl, als ihre Kinder auf dem Arm oder auf der Hüfte mit sich herumzutragen. Wichtiger noch: Wenn sie Nahrung sammeln wollten, waren
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