Der Untergang des Abendlandes
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das ist beinahe der Unterschied von Judäa und Mesopotamien
. In der späteren persischen und jeder andern magischen Theologie sind beide Richtungen vereinigt, nur hier haben sie sich
örtlich
getrennt. Die Entscheidungen von Jerusalem wurden allenthalben anerkannt; es fragt sich aber, wie weit sie befolgt worden sind. Schon Galiläa war den Pharisäern verdächtig; in Babylonien durfte kein Rabbiner geweiht werden. Von dem großen Gamaliel, dem Lehrer des Paulus, wird gerühmt, daß seine Verordnungen von den Juden »selbst im Auslande« befolgt würden. Wie unabhängig man in Ägypten lebte, beweisen die kürzlich entdeckten Urkunden von Elefantine und Assuan. [E. Sachau, Aramäische Papyros und Ostraka aus Elefantine (1911).] Um 170 bittet Onias den König um Erlaubnis, einen Tempel »nach den Maßen des jerusalemischen« errichten zu dürfen, mit der Begründung, daß die vielen gesetzwidrig bestehenden Tempel einen ewigen Hader unter den Gemeinden erregten.
Es ist noch eine zweite Betrachtung nötig. Das Judentum hat sich wie das Persertum seit der Zeit des Exils aus sehr kleinen Stammesverbänden ins Ungeheure vermehrt und zwar durch Bekehrung und Übertritte.
Es ist die einzige Form der Eroberung, deren eine Nation ohne Land fähig ist, und den magischen Religionen deshalb natürlich und selbstverständlich
. Im Norden drang es über den Judenstaat Adiabene schon früh bis zum Kaukasus vor, im Süden, wahrscheinlich längs des Persischen Golfes, nach Saba; im Westen gab es in Alexandria, Kyrene und Cypern den Ausschlag. Die Verwaltung in Ägypten und die Politik des Partherreiches lagen zum großen Teil in jüdischen Händen.
Aber diese Bewegung geht einzig von Mesopotamien aus
. Es ist apokalyptischer und nicht talmudischer Geist darin. In Jerusalem erfindet das Gesetz immer neue Schranken gegen die Ungläubigen. Es genügt nicht, daß man auf Bekehrungen verzichtet. Man darf nicht einmal einen Heiden unter seinen Vorfahren haben. Ein Pharisäer erlaubt sich, dem allgemein beliebten König Hyrkan (135 bis 106) zuzurufen, er solle das Hohepriesteramt niederlegen, weil seine Mutter sich einmal in der Gewalt der Ungläubigen befunden habe. [Josephus, Antiqu., 13, 10.] Es ist dieselbe Enge, welche in der christlichen Urgemeinde Judäas als Widerstand gegen die Heidenmission zum Vorschein kommt. Im Osten wäre niemand auch nur auf den Gedanken gekommen, hier eine Grenze zu ziehen; es widerspricht dem ganzen Begriff der magischen Nation. Aber daraus folgt die
geistige Überlegenheit des weiten Ostens
. Mochte das Synedrion in Jerusalem von unbestrittener religiöser Autorität sein, politisch und damit geschichtlich ist der Resch galuta eine ganz andere Macht. Das übersieht die christliche wie die jüdische Forschung. Soviel ich weiß, hat niemand die bedeutsame Tatsache beachtet, daß die Verfolgung durch Antiochus Epiphanes sich überhaupt nicht gegen »das Judentum«, sondern gegen Judäa richtete, und das führt zu einer Einsicht von noch viel größerer Tragweite.
Die Zerstörung Jerusalems traf nur einen sehr kleinen Teil der Nation und
politisch wie geistig bei weitem den unbedeutendsten
. Es ist nicht wahr, daß das jüdische Volk seitdem »in der Zerstreuung« gelebt hätte. Es lebte seit Jahrhunderten und nicht allein, sondern zugleich mit dem persischen und anderen Völkern, in einer Form, die an kein Land gebunden war. Und man mißversteht auch den Eindruck dieses Krieges auf das eigentliche Judentum, das von Judäa wie ein Zubehör betrachtet und behandelt wurde. Man empfand den Sieg der Heiden und den Untergang des Heiligtums in tiefster Seele [Wie etwa die katholische Kirche die Zerstörung des Vatikans empfinden würde.] und hat in dem Kreuzzug von 115 die schwerste Rache genommen, aber das galt dem jüdischen und nicht dem judäischen Ideal. Mit dem »Zionismus« ist es damals wie früher unter Kyros und heute nur einer ganz geringen und geistig beschränkten Minderheit ernst gewesen. Hätte man das Unglück wirklich als »Verlust der Heimat« empfunden, wie wir uns das nach abendländischem Gefühl vorstellen, so wäre die Rückeroberung seit Marc Aurel hundertmal möglich gewesen. Aber sie hätte dem magischen Nationalgefühl widersprochen. Die ideale Form der Nation war die »Synagoge«, der reine
consensus
wie die urkatholische »sichtbare Kirche« und wie der Islam; und gerade sie ist durch die Vernichtung von Judäa und dem hier geltenden Stammesgeist
erst ganz verwirklicht
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