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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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mußten alle Legenden und heiligen Abenteuer von Mithras, Attis und Osiris flach und leer erscheinen.
    Hier gibt es keine Philosophie. Seine Aussprüche, von denen manche den Gefährten noch im hohen Alter Wort für Wort im Gedächtnis hafteten, sind die eines Kindes mitten in einer fremden, späten und kranken Welt. Es gibt keine sozialen Betrachtungen, keine Probleme, keine Grübelei. Wie eine stille selige Insel ruht das Leben dieser Fischer und Handwerker am See Genezareth mitten in der Zeit des großen Tiberius, fernab von aller Weltgeschichte, ohne irgendeine Ahnung von den Händeln der Wirklichkeit, während rings die hellenistischen Städte leuchten mit ihren Tempeln und Theatern, der feinen westlichen Gesellschaft und den lärmenden Zerstreuungen des Pöbels, den römischen Kohorten und der griechischen Philosophie. Als seine Freunde und Begleiter Greise geworden waren und der Bruder des Hingerichteten dem Kreise in Jerusalem vorstand, sammelte sich aus den Worten und Erzählungen, die überall in den kleinen Gemeinden im Umlauf waren, ein Lebensbild von so ergreifender Innerlichkeit, daß es eine eigene Darstellungsform hervorrief, die weder in der antiken noch in der arabischen Kultur Vorbilder hat: das Evangelium. Das Christentum ist die einzige Religion der Weltgeschichte, in welcher ein Menschenschicksal der unmittelbaren Gegenwart zum Sinnbild und Mittelpunkt der gesamten Schöpfung geworden ist.
    Eine ungeheure Erregung, wie die germanische Welt sie um das Jahr 1000 kennenlernte, ging damals durch das ganze aramäische Land. Die magische Seele war erwacht. Was in den prophetischen Religionen wie eine Ahnung lag, was zur Zeit Alexanders in metaphysischen Umrissen hervortrat, das erfüllte sich jetzt. Und diese Erfüllung weckte in unnennbarer Stärke das Urgefühl der Angst. Es gehört zu den letzten Geheimnissen des Menschentums und des freibeweglichen Lebens überhaupt, daß die Geburt des Ich und der Weltangst ein und dasselbe sind. Daß sich vor einem Mikrokosmos ein Makrokosmos auf tut, weit, übermächtig, ein Abgrund von fremdem lichtüberstrahlten Sein und Treiben, das läßt das kleine, einsame Selbst scheu in sich zurückweichen. Eine Angst vor dem eigenen Wachsein, wie sie Kinder zuweilen überfällt, lernt kein Erwachsener in den schwärzesten Stunden seines Lebens wieder kennen. Diese Todesangst lag auch über dem Anbruch der neuen Kultur. In dieser Morgenfrühe magischen Weltbewußtseins, das verzagt, ungewiß, dunkel über sich selbst war, fiel ein neuer Blick auf das nahe Ende der Welt. Es ist der erste Gedanke, mit dem bis jetzt jede Kultur zum Bewußtsein ihrer selbst kam. Ein Schauer von Offenbarungen, Wundern, letzten Einblicken in den Urgrund der Dinge überfiel jedes tiefere Gemüt. Man dachte, man lebte nur noch in apokalyptischen Bildern. Die Wirklichkeit wurde zum Schein. Seltsame und grauenvolle Gesichte wurden geheimnisvoll herumerzählt, aus wirren und dunklen Schriften verlesen und sofort, mit unmittelbarer innerer Gewißheit begriffen. Von einer Gemeinschaft zur andern, von Dorf zu Dorf wanderten solche Schriften, von denen sich gar nicht sagen läßt, daß sie einer einzelnen Religion angehören. [So das Naassenerbuch (P. Wendland, Hellenist.-röm. Kultur, S. 177 ff.), die »Mithrasliturgie« (hrsg. von Dieterich), der hermetische Poimandres (hrsg. von Reitzenstein), die Oden Salomons, die Apostelgeschichten des Thomas und Petrus, die Pistis Sophia usw., die ein noch viel primitiveres Schrifttum zwischen 100 v. und 200 n. Chr. voraussetzen.] Sie sind persisch, chaldäisch, jüdisch gefärbt, aber sie haben alles aufgenommen, was damals in den Gemütern umging. Die kanonischen Bücher sind national, die apokalyptischen international im wörtlichen Sinne. Sie sind da, ohne daß jemand sie verfaßt zu haben scheint. Ihr Inhalt verschwimmt und lautet heute so und morgen anders. Sie sind aber auch nichts weniger als »Dichtung«. [Ebensowenig wie Dostojewskis »Traum eines lächerlichen Menschen«.] Sie gleichen den furchtbaren Portalgestalten an den romanischen Kathedralen Frankreichs, die ebenfalls keine »Kunst«, sondern steingewordene Angst sind. Jeder kannte diese Engel und Dämonen, diese Himmel- und Höllenfahrten göttlicher Wesen, den Urmenschen oder zweiten Adam, den Gesandten Gottes, den Heiland der letzten Tage, den Menschensohn, die Ewige Stadt und das Jüngste Gericht. [Entscheidende Einblicke in diese frühmagische Vorstellungswelt verdanken wir jetzt den

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