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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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    Der Krieg Vespasians, der sich nur gegen Judäa richtete, war eine Befreiung des Judentums. Denn erstens verschwand damit der Anspruch der Bevölkerung dieses winzigen Gebietes, die eigentliche Nation zu sein, und die Gleichsetzung ihrer kahlen Geistigkeit mit dem Seelenleben des Ganzen. Die gelehrte Forschung, die Scholastik und Mystik der östlichen Hochschulen kam zu ihrem Recht. Der Oberrichter Karna hat, etwa gleichzeitig mit Ulpian und Papinian, an der Hochschule von Nehardea das erste Zivilrecht zusammengestellt. [Vgl. Bd. II, S. 637f.] Und zweitens rettete es diese Religion vor den Gefahren der Pseudomorphose, denen das Christentum gleichzeitig erlag. Es hatte seit 200 v. Chr. eine halb hellenistische Judenliteratur gegeben. Der Prediger Salomo (Koheleth) enthält pyrrhonische Stimmungen. Die Weisheit Salomos, das zweite Makkabäerbuch, Theodot, der Aristeasbrief und anderes folgen; es gibt Stücke wie die Spruchsammlung Menanders, bei denen sich überhaupt nicht ermitteln läßt, ob sie griechisch oder jüdisch sein sollte. Es gab um 160 Hohepriester, die aus hellenistischem Geist die jüdische Religion bekämpften, und spätere Herrscher wie Hyrkan und Herodes, die dasselbe mit politischen Mitteln versuchten. Diese Gefahr ist mit dem Jahre 70 sofort und endgültig zu Ende.
    Es gab zur Zeit Jesu in Jerusalem drei Richtungen, die man
als allgemein aramäische
betrachten darf: die Pharisäer, Sadduzäer und Essäer. Obwohl die Begriffe und Namen schwanken und die Ansichten der christlichen wie der jüdischen Forschung sehr verschieden sind, darf doch gesagt werden:
    Die erste Gesinnung tritt am reinsten im Judaismus, die zweite im Chaldäertum, die dritte im Hellenismus hervor. [Bei Schiele, Die Religion in Geschichte und Gegenwart III, S. 812, werden die beiden letzten mit vertauschten Namen bezeichnet; das ändert aber nichts an der Erscheinung.] Essäisch ist die Entstehung des ordensartigen Mithraskultes im östlichen Kleinasien, pharisäisch ist in der Kultkirche das System des Porphyrios. Die Sadduzäer, obwohl sie in Jerusalem selbst als kleiner vornehmer Kreis erscheinen – Josephus vergleicht sie mit den Epikuräern –, sind allgemein aramäisch durch ihre apokalyptischen und eschatologischen Stimmungen, durch das, was in dieser Frühzeit dem Geiste Dostojewskis verwandt ist. Sie und die Pharisäer verhalten sich wie Mystik und Scholastik, wie Johannes und Paulus, wie Bundehesch und Vendidad der Perser. Die Apokalyptik ist volkstümlich und in vielen Zügen seelisches Gemeingut der ganzen aramäischen Welt. Das talmudische und awestische Pharisäertum ist exklusiv und sucht jede andre Religion so schroff als möglich abzusondern. Nicht der Glaube und die Visionen, sondern der strenge Ritus, der gelernt und eingehalten werden muß, ist ihm das Wichtigste, so daß nach seiner Ansicht der Laie aus Unkenntnis des Gesetzes gar nicht fromm sein kann.
    Die Essäer erscheinen in Jerusalem als Mönchsorden wie die Neupythagoräer. Sie besaßen geheime Schriften; [Bousset, Religion der Juden, S. 532.] im weiteren Sinne sind sie die Vertreter der Pseudomorphose und sie verschwinden deshalb mit dem Jahre 70 vollständig aus dem Judentum, während gerade jetzt die christliche Literatur eine rein griechische wurde, nicht zum wenigsten deshalb, weil das hellenisierte westlichste Judentum den nach Osten weichenden Judaismus verließ und allmählich im Christentum aufging.
    Aber auch die Apokalyptik, eine Ausdrucksform des stadtlosen und stadtfeindlichen Menschentums, ist innerhalb der Synagoge sehr bald zu Ende, nachdem sie unter dem Eindruck der Katastrophe noch einmal eine wunderbare Blüte erlebt hatte. [ Baruch, IV. Esra, die Urschrift der Offenbarung Johannis.] Als es sich entschieden hatte, daß die Lehre Jesu nicht zu einer Reform des Judentums, sondern zu einer neuen Religion heranwuchs, und um 100 die tägliche Fluchformel gegen die Judenchristen eingeführt wurde, verblieb die Apokalyptik für den kurzen Rest ihres Daseins der jungen Religion.
6
    Das Unvergleichliche, womit das junge Christentum sich über alle Religionen dieser reichen Frühzeit hinaushebt, ist die Gestalt Jesu. Es gibt in all den großen Schöpfungen jener Jahre nichts, was sich ihr zur Seite stellen ließe. Wer damals seine Leidensgeschichte las und hörte, wie sie sich kurz vorher begeben hatte: den letzten Zug nach Jerusalem, das letzte bange Abendmahl, die Stunde der Verzweiflung in Gethsemane und den Tod am Kreuz, dem

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