Der Untergang des Abendlandes
zuletzt doch nur statt Gott Kraft und statt Ewigkeit Erhaltung der Energie. Allem antiken Rationalismus liegt der Olymp, allem abendländischen die Lehre von den Sakramenten zugrunde. Deshalb schwankt diese Philosophie hin und her zwischen Religion und Fachwissenschaft und wird in jedem Falle anders definiert, je nachdem der Urheber noch etwas vom Priester und Seher in sich hat oder reiner Fachmann und Techniker des Denkens ist.
»Weltanschauung« ist der eigentliche Ausdruck für ein aufgeklärtes Wachsein, das unter Leitung des kritischen Verstehens sich in einer götterlosen Lichtwelt umsieht und die Sinne Lügen straft, sobald sie etwas empfinden, was der »gesunde Menschenverstand« nicht anerkennt. Was einst Mythos war, das Wirklichste des Wirklichen, unterliegt jetzt der Methode des Euhemerismus, die nach jenem Gelehrten ihren Namen trägt, welcher um 300 v. Chr. die antiken Gottheiten für Menschen erklärte, die sich einst verdient gemacht hatten. In irgendeiner Form erscheint dies Verfahren in jeder aufgeklärten Zeit. Es ist euhemeristisch, wenn die Hölle als das böse Gewissen, der Teufel als die böse Lust und Gott als die Schönheit der Natur gedeutet werden. Dahin gehört es auch, wenn auf attischen Grabsteinen um 400 an Stelle der Stadtgöttin Athene eine Göttin Demos angerufen wird – was andrerseits der jakobinischen Göttin Vernunft sehr nahe kommt –, wenn Sokrates von seinem Daimonion und andre Denker dieser Zeit vom Íï?ò statt von Zeus sprechen. Konfuzius sagt »Himmel« statt Schang-ti, das heißt, er glaubt nur an Naturgesetze. Ein ungeheuerlicher Akt des Euhemerismus ist die »Sammlung« und »Ordnung« der kanonischen Schriften Chinas durch die Konfuzianer, die in Wirklichkeit eine Vernichtung fast aller alten religiösen Werke und die rationalistische Verfälschung des Restes bedeutete. Wäre es möglich gewesen, so hätten die Aufklärer des 18. Jahrhunderts sich ebenso um das Erbe der Gotik verdient gemacht. [Kalifen wie Al Maimun (813–33) und die letzten Ommaijaden wären mit etwas Ähnlichem für den Islam durchaus einverstanden gewesen. Es gab damals in Bagdad einen Klub, in dem Christen, Juden, Moslime und Atheisten debattierten und die Berufung auf Bibel und Koran nicht gestattet war.]
Konfuzius gehört durchaus in das »18. Jahrhundert« Chinas. Laotse, der ihn verachtet, steht inmitten des Taoismus, einer Bewegung, die nacheinander protestantische, puritanische und pietistische Züge zum Vorschein gebracht hat, und beide verbreiten zuletzt eine praktische Weltstimmung auf dem Hintergrunde einer ganz mechanistischen Weltanschauung. Das Wort Tao hat seine Grundbedeutung im Verlauf der chinesischen Spätzeit ebenso beständig verändert, und zwar in mechanistischer Richtung, wie »Logos« in der antiken Geistesgeschichte von Heraklit bis Poseidonios und »Kraft« von Galilei bis zur Gegenwart. Was einst Mythos und Kultus großen Stils gewesen war, heißt in dieser Religion der Gebildeten
Natur
und
Tugend
, aber Natur ist ein vernünftiger Mechanismus und
Tugend ist Wissen
: darüber sind Konfuzius, Buddha, Sokrates und Rousseau einer Meinung. Von Gebet und Betrachtungen über das Leben nach dem Tode hielt Konfuzius wenig, von Offenbarungen gar nichts. Wer sich viel mit Opfern und Kulten beschäftigt, ist ungebildet und unvernünftig. Gotamo Buddha und sein Zeitgenosse Mahavira, der Stifter des Jainismus, die beide aus der Staatenwelt am unteren Ganges, östlich vom alten brahmanischen Kulturgebiet stammten, haben bekanntlich weder den Gottesbegriff noch einen Mythos und Kultus anerkannt. Von der wahren Lehre Buddhas ist wenig mehr festzustellen. Alles erscheint in die Farbe der späteren Fellachenreligion seines Namens getaucht. Aber einer der zweifellos echten Gedanken über das »ursachmäßige Entstehen« ist die Ableitung des Leidens
aus dem Nichtwissen
, nämlich der »vier edlen Wahrheiten«. Das ist echter Rationalismus. Nirwana ist bei ihm eine rein geistige Ablösung und entspricht durchaus der Autarkeia und Eudaimonia der Stoiker. Es ist der Zustand des verstehenden Wachseins, für welchen das Dasein nicht mehr vorhanden ist.
Für den Gebildeten solcher Zeiten ist der Weise das große Ideal. Der Weise kehrt aus Vernunftgründen zur Natur zurück, nach Ferney oder Ermenonville, in attische Gärten oder indische Wälder; es ist die geistigste Art, Großstädter zu sein. Der Weise ist der Mensch der rechten Mitte. Seine Askese besteht in einer maßvollen
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