Der Untergang des Abendlandes
Geringschätzung der Welt zugunsten der Meditation. Die Weisheit der Aufklärung wird nie die Bequemlichkeit stören. Moral auf dem Hintergrunde des großen Mythos war immer ein Opfer, ein Kult, bis zur härtesten Askese, bis zum Tode. Tugend auf dem Hintergrunde der Weisheit ist eine Art von heimlichem Genuß, ein feinster, geistigster Egoismus, und damit wird aus dem Sittenlehrer jenseits der echten Religion ein Philister. Buddha, Konfuzius, Rousseau sind Erzphilister bei aller Erhabenheit ihrer Gedankengänge, und nichts kann über die Pedanterie der sokratischen Lebensweisheit hinweghelfen.
Zu dieser, man möchte sagen Scholastik des gesunden Menschenverstandes gehört mit innerer Notwendigkeit eine rationalistische Mystik der Gebildeten. Die Aufklärung des Abendlandes ist englischen Ursprungs und das Ergebnis des Puritanismus: von Locke geht der gesamte Rationalismus des Festlands aus. Gegen ihn vor allem lehnen sich in Deutschland die Pietisten auf (seit 1700 die Herrnhuter Brüdergemeinde, Spener und Francke, in Württemberg Oetinger), in England die Methodisten (1738 Wesley von Herrnhut aus »erweckt«). Es ist wieder der Unterschied von Luther und Calvin, daß diese sich alsbald zu einer Weltbewegung organisierten und jene sich in mitteleuropäischen Konventikeln verloren. Die Pietisten des Islam finden sich im
Sufismus
, der nicht »persischen«, sondern allgemein aramäischen Ursprungs ist und sich im 8. Jahrhundert von Syrien aus über die ganze arabische Welt verbreitet. Pietisten oder Methodisten sind die indischen Laien, die kurz vor Buddha die Erlösung vom Kreislauf des Lebens
(sansara)
durch Versenkung in die Gleichheit von
brahman
und
atman
lehrten, aber auch Laotse und seine Anhänger, und trotz ihres Rationalismus die kynischen Bettelmönche und Wanderprediger und die stoischen Erzieher, Hausgeistlichen und Beichtväter des frühen Hellenismus. [Gercke-Norden, Einl. in die Altertumswiss. II, S. 210.] Es sind Steigerungen möglich bis zur rationalistischen Vision, deren klassisches Beispiel Swedenborg ist, die bei den Stoikern und Sufis eine ganze religiöse Phantasiewelt hervorgebracht hat und die Umbildung des Buddhismus zum Mahayana vorbereitet. Die Entwicklung des Buddhismus und Taoismus in ihrer ursprünglichen Bedeutung ist der methodistischen in Amerika sehr ähnlich, und es ist kein Zufall, daß beide am unteren Ganges und südlich des Jangtsekiang, also in den jungen Siedlungsgebieten beider Kulturen zur vollen Blüte gelangt sind.
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Zwei Jahrhunderte nach dem Puritanismus steht die mechanistische Weltauffassung auf ihrem Gipfel. Sie ist die wirkliche Religion der Zeit. Auch wer jetzt noch überzeugt ist, im alten Sinne religiös zu sein, »an Gott zu glauben«, täuscht sich nur über die Welt, in der sich sein Wachsein spiegelt. Religiöse Wahrheiten sind in seinem Verstehen immer mechanistische Wahrheiten, und meist ist es nur die Gewohnheit der Worte, welche die wissenschaftlich gesehene Natur mythisch überfärbt. Kultur ist immer gleichbedeutend mit religiöser Gestaltungskraft. Jede große Kultur beginnt mit einem gewaltigen Thema, das sich aus dem stadtlosen Lande erhebt, in den Städten mit ihren Künsten und Denkweisen vielstimmig durchgeführt wird und in den Weltstädten im Finale des Materialismus ausklingt. Aber selbst die letzten Akkorde halten streng die Tonart des Ganzen fest. Es gibt einen chinesischen, indischen, antiken, arabischen, abendländischen Materialismus, der in jedem einzelnen Falle nichts ist als die ursprüngliche mythische Gestaltenfülle, unter Abziehung alles Erlebten und Erschauten mechanistisch gefaßt.
Yang-dschu hat in diesem Sinne den konfuzianischen Rationalismus zu Ende gedacht. Das System des Lokayata setzt die dem Gotamo Buddha, Mahavira und den übrigen Pietisten ihrer Zeit gemeinsame Verachtung der entseelten Welt ebenso fort, wie diese Verachtung den Atheismus der Sankhyalehre. Sokrates ist so gut der Erbe der Sophisten wie der Ahnherr der kynischen Wanderprediger und der pyrrhonischen Skepsis. Es ist stets die Überlegenheit des mit dem Irrationalen endgültig fertig gewordenen Weltstadtgeistes, der mit Verachtung auf jedes Wachsein herabsieht, das noch Geheimnisse kennt und anerkennt. Gotische Menschen schauderten auf Schritt und Tritt vor dem Unergründlichen zurück, das in den Wahrheiten der Lehre nur noch ehrfurchtgebietender vor sie hintrat. Aber selbst der moderne Katholik empfindet diese Lehre nur als System, das alle
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