Der Untergang des Abendlandes
früheren offenen Hoftafel, aber die Macht der Könige ist bis zur Schattenwürde des Opferkönigs in Rom (und Athen) und der spartanischen Könige gesunken, die von den Ephoren jederzeit ins Gefängnis geworfen und abgesetzt werden können. Die Gleichartigkeit dieser Zustände zwingt zu der Annahme, daß in Rom der tarquinischen Tyrannis von 500 eine Zeit oligarchischer Übermacht voraufgegangen ist, und das wird durch die zweifellos echte Überlieferung vom Interrex bestätigt, den der Adelsrat des Senats aus seiner Mitte bestellte, bis es ihm beliebte, wieder einen König zu wählen.
Es gab hier wie überall eine Zeit, in welcher das Lehnswesen im Zerfall begriffen, der heraufkommende Staat aber noch nicht vollendet, die Nation noch nicht in Form war. Das ist die furchtbare Krise, welche überall als Interregnum in Erscheinung tritt und die Grenze
zwischen Lehnsverband und Ständestaat
bildet. In Ägypten war um die Mitte der fünften Dynastie das Lehnswesen voll entwickelt. Gerade der Pharao Asosi gab Stück um Stück des Hausgutes an die Vasallen preis, und dazu kamen die reichen geistlichen Lehen, die ganz wie in gotischer Zeit abgabenfrei blieben und allmählich bleibendes Eigentum der großen Tempel wurden. [Ed. Meyer, Geschichte des Altert. I, § 264.] Mit der fünften Dynastie (um 2320) ist die »Stauferzeit« zu Ende. Unter der Schattenherrschaft der kurzlebigen sechsten Dynastie werden die Fürsten
(rpati)
und Grafen
(hetio)
selbständig; die hohen Ämter sind sämtlich erblich geworden und in den Grabinschriften tritt der Stolz auf alten Adel mehr und mehr hervor. Was späte ägyptische Historiker unter einer angeblichen 7. und 8. Dynastie versteckt haben, [Ed. Meyer, Geschichte des Altert. I, § 267f.] ist ein halbes Jahrhundert voller Anarchie und regelloser Kämpfe der Fürsten um ihre Gebiete oder den Pharaonentitel. In China wurde schon I-wang (934–909) von seinen Vasallen verpflichtet, alles eroberte Land als Lehen zu vergeben, und zwar an Untervasallen ihrer Wahl. 842 wurde Li-wang gezwungen, mit dem Thronfolger zu fliehen, worauf die Reichsverwaltung durch zwei Einzelfürsten fortgeführt wurde. Mit diesem Interregnum beginnt der Niedergang des Hauses der Dschou und das Sinken des Kaisernamens zu einem ehrwürdigen, aber bedeutungslosen Titel. Das ist das Seitenstück zur kaiserlosen Zeit in Deutschland, die 1254 beginnt und unter Wenzel um 1400 zum Tiefpunkt der Kaisergewalt überhaupt führt, gleichzeitig mit dem Renaissancestil der Condottieri und Stadttyrannen und dem vollen Verfall der päpstlichen Gewalt. Nach dem Tode Bonifaz' VIII., der 1302 in der Bulle
Unam sanctam
noch einmal die Lehnsgewalt des Papstes vertreten hatte und daraufhin von den Vertretern Frankreichs verhaftet worden war, erlebte das Papsttum ein Jahrhundert in Verbannung, Anarchie und Ohnmacht, während im folgenden der normannische Adel Englands in den Kämpfen der Häuser Lancaster und York um den Thron größtenteils zugrunde ging.
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Diese Erschütterung bedeutet
den Sieg des Staates über den Stand
. Dem Lehnswesen lag das Gefühl zugrunde, daß Alle um eines »Lebens« willen da seien, das mit Bedeutung geführt wurde. Die Geschichte erschöpfte sich in den Schicksalen adligen Blutes. Jetzt bricht ein Gefühl hervor, daß es
noch etwas gibt
, dem auch der Adel untersteht und zwar in Gemeinschaft mit allem andren, sei es Stand oder Beruf, etwas Ungreifbares, eine Idee. Die unbeschränkte privatrechtliche Auffassung der Ereignisse geht in eine staatsrechtliche über. Mag dieser Staat noch so sehr Adelsstaat sein, und das ist er fast ohne Ausnahme, mag sich äußerlich im Übergang vom Lehnsverband zum Ständestaat noch so wenig ändern, mag der Gedanke, daß es außerhalb der Urstände nicht nur Pflichten, sondern auch Rechte gibt, noch so unbekannt sein – das Gefühl ist
doch
anders geworden, und das Bewußtsein, daß das Leben auf den Höhen der Geschichte da sei, um gelebt zu werden, ist dem andern gewichen, daß es eine
Aufgabe
enthält. Der Abstand wird sehr deutlich, wenn man die Politik Rainalds von Dassel († 1167), eines der größten deutschen Staatsmänner aller Zeiten, mit der Kaiser Karls IV. († 1378) vergleicht, und damit den entsprechenden Übergang von der antiken
themis
der Ritterzeit zur
dike
der werdenden Polis. [V. Ehrenberg, Die Rechtsidee im früheren Griechentum (1921), S. 65 ff.]
Themis
enthält nur einen Rechts
anspruch, dike
auch eine
Aufgabe
.
Der urwüchsige Staatsgedanke ist
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