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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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Schauspiel für einen Gott – verschlossen bleibt wie Kant und den meisten Systematikern des Denkens, der wird darin nur den sinnlosen Wirrwarr von Zufällen, diesmal im banalsten Sinn des Wortes, finden. [»Plus on vieillit, plus on se persuade, que sa sacrée Majesté le Hazard fait les trois quarts de la besogne de ce misérable Univers« (Friedrich der Große an Voltaire). So empfindet ein echter Rationalist mit Notwendigkeit.] Aber auch die zünftige, unkünstlerische Geschichtsforschung ist mit ihrem Sammeln und Ordnen bloßer Daten nicht viel mehr als eine wenn auch noch so geistreiche Sanktion des Banal-Zufälligen. Erst der ins Metaphysische dringende Blick erlebt in den Daten
Symbole
von Geschehenem und erhebt damit den Zufall zum Schicksal. Wer selbst ein Schicksal ist – wie Napoleon –, bedarf dieses Blickes nicht, denn zwischen ihm als Tatsache und den übrigen Tatsachen besteht ein Einklang metaphysischen Taktes, der seinen Entscheidungen die traumhafte Sicherheit gibt. [Vgl. Bd. II, S. 575 ff.]
    Dieser Blick ist das Einzigartige und Gewaltige an Shakespeare, in dem man den eigentlichen
Tragiker des Zufalls
noch nie gesucht und nie vermutet hat. Und doch liegt hier gerade der letzte Sinn abendländischer Tragik, die zugleich das Abbild der abendländischen Idee der Geschichte und damit der Schlüssel zu dem ist, was das von Kant nicht verstandene Wort »Zeit« für uns bedeutet. Es ist zufällig, daß die politische Situation im »Hamlet«, der Königsmord und die Frage der Thronfolge, gerade
diesen
Charakter treffen. Es ist zufällig, daß Jago, ein alltäglicher Halunke, wie man sie auf allen Straßen findet, gerade diesen Mann aufs Korn nahm, dessen Person diese durchaus nicht alltägliche Physiognomie besaß! Und Lear! Ist etwas zufälliger (und darum »natürlicher«) als die Paarung dieser gebietenden Würde mit diesen den Töchtern vererbten verhängnisvollen Leidenschaften? Daß Shakespeare die Anekdote nimmt, wie er sie findet, und sie
eben dadurch
mit der Wucht innerster Notwendigkeit erfüllt – nirgends erhabener als in den Römerdramen –, das hat man heute noch nicht zu verstehen vermocht. Denn das Verstehen
wollen
erging sich in verzweifelten Versuchen, eine moralische Kausalität hineinzutragen, ein »Deshalb«, einen Zusammenhang von »Schuld« und »Sühne«. Aber das ist weder richtig noch falsch – richtig und falsch gehören zur Welt als Natur und bedeuten eine Kritik von Kausalem –, sondern flach, nämlich im Gegensatz zu dem tiefen Erleben der rein tatsächlichen Anekdote durch den Dichter. Nur wer das fühlt, vermag die großartige Naivität der Eingänge des Lear und Macbeth zu bewundern. Das Gegenteil zeigt Hebbel, der die Tiefe des Zufalls durch ein System von Ursachen und Wirkungen vernichtet. Das Gezwungene, Begriffliche seiner Entwürfe, das jeder fühlt, ohne es sich deuten zu können, liegt darin, daß das kausale Schema seiner seelischen Konflikte dem historisch-bewegten Weltgefühl und dessen ganz andersartiger Logik widerspricht. Diese Menschen leben nicht; sie
beweisen
etwas durch ihre Anwesenheit. Man fühlt die Gegenwart eines großen Verstandes, aber nicht die eines tiefen Lebens. An Stelle des Zufalls ist ein »Problem« getreten.
    Und eben diese
abendländische
Art des Zufälligen ist dem antiken Weltgefühl und mithin dem antiken Drama ganz fremd. Antigone hat keine zufällige Eigenschaft, welche für ihr Geschick irgendwie in Betracht käme. Was dem König Ödipus widerfuhr, hätte – im Gegensatz zum Schicksale Lears – jedem andern widerfahren können. Dies ist das
antike
Schicksal, das »allgemein menschliche«
Fatum
, das einem »Leibe« überhaupt gilt und vom zufällig Persönlichen in keiner Weise abhängt.
    Die gewöhnliche Geschichtsschreibung wird, soweit sie sich nicht im Sammeln von Daten verliert,
immer
beim
Flach
zufälligen stehen bleiben. Dies ist – das Schicksal ihrer Urheber, die seelisch mehr oder weniger innerhalb der Menge bleiben. Vor ihrem Auge fließen Natur und Geschichte in eine volkstümliche Einheit zusammen und »Zufall«, »Sa sacrée Majesté le Hazard«, ist für den Mann der Menge das Verständlichste, was es gibt. Es ist das Kausale hinter dem Vorhang, das
noch nicht
Bewiesene, das ihm die geheime Logik der Geschichte, die er nicht fühlt, ersetzt. Das anekdotenhafte Vordergrundsbild der Geschichte, der Tummelplatz aller wissenschaftlichen Kausalitätenjäger und aller Roman- und Stückeschreiber gewöhnlichen

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