Der Untergang des Abendlandes
Westeuropa erwachte. Von diesem Augenblick an aber folgte sie »dem Gesetz, wonach sie angetreten«. Innerhalb jeder Epoche besteht eine unbegrenzte Fülle überraschender und nie vorherzusehender Möglichkeiten, sich in Einzeltatsachen zu verwirklichen, die Epoche selbst aber ist notwendig, weil die Lebenseinheit da ist. Daß ihre innere Form gerade diese ist, ist ihre
Bestimmung
. Neue Zufälle können deren Entwicklung großartig oder kümmerlich, glücklich oder jammervoll gestalten, aber ändern können sie sie nicht. Eine unwiderrufliche Tatsache ist nicht nur der Einzelfall, sondern auch der Einzeltypus, in der Geschichte des Alls der Typus »Sonnensystem« mit den kreisenden Planeten, in der Geschichte unsres Planeten der Typus »Lebewesen« mit Jugend, Alter, Lebensdauer und Fortpflanzung, in der Geschichte der Lebewesen der Typus des Menschendaseins, in dessen »weltgeschichtlichem« Stadium der Typus der großen Einzelkultur. [Auf der Tatsache, daß eine ganze Gruppe dieser Kulturen vor uns liegt, beruht die vergleichende Methode dieses Buches; vgl. Bd. II, S. 597ff.] Und diese Kulturen sind ihrem Wesen nach den Pflanzen verwandt: sie sind für ihre ganze Lebensdauer mit dem Boden verbunden, aus dem sie aufgesprossen sind. Und typisch ist endlich die Art, wie die Menschen einer Kultur das Schicksal auffassen und erleben, mag das Bild für den einzelnen noch so verschieden gefärbt sein. Was hier darüber gesagt wird, ist nicht »wahr«, sondern für diese Kultur und diese Zeitstufe innerlich notwendig, und es überzeugt andre, nicht weil es nur eine Wahrheit gibt, sondern weil sie derselben Epoche angehören.
Die euklidische Seele der Antike konnte ihr an gegenwärtigen Vordergründen haftendes Dasein deshalb nur in der Gestalt von
Zufällen antiken Stils
erleben. Darf man für die abendländische Seele das Zufällige als Schicksal von geringerem Gehalte deuten, so darf umgekehrt das Schicksal für die antike Seele als ein ins Ungeheure gesteigerter Zufall gelten. Das bedeuten Ananke, Heimarmene und Fatum. Weil die antike Seele Geschichte nicht eigentlich durchlebte, besaß sie auch kein eigentliches Gefühl für eine
Logik
des Schicksals. Man lasse sich nicht durch Worte täuschen. Die volkstümlichste Göttin des Hellenismus war Tyche, die man von Ananke kaum zu scheiden wußte. Schicksal und Zufall aber werden von
uns
mit der ganzen Wucht eines
Gegensatzes
empfunden, von dessen Austrag in den Tiefen unseres Daseins alles abhängt.
Unsere
Geschichte ist die der großen Zusammenhänge; die antike Geschichte, nicht etwa nur ihr Bild bei Historikern wie Herodot, sondern ihre volle Wirklichkeit ist die der Anekdoten, das heißt eine Reihe plastischer Einzelheiten. Anekdotisch in der ganzen Schwere des Wortes ist der Stil des antiken Daseins überhaupt wie der jedes einzelnen Lebenslaufes. Die sinnlich-greifbare Seite der Ereignisse verdichtet sich zu geschichts
feindlichen, dämonischen, absurden
Zufällen. Die Logik des Geschehens wird durch sie verneint und verleugnet. Alle Fabeln antiker Meistertragödien
erschöpfen
sich in Zufällen, welche einen Sinn der Welt verhöhnen; anders läßt sich die Bedeutung des Wortes ειμαρμενη im Gegensatz zur shakespearischen
Logik des Zufalls
nicht bezeichnen. Noch einmal: was dem Ödipus zustößt, ganz von außen und innerlich durch nichts bedingt und bewirkt, hätte jedem Menschen ohne Ausnahme geschehen können. Das ist die
Form des antiken Mythos
. Man vergleiche damit die tiefinnere, durch ein ganzes Dasein und das Verhältnis dieses Daseins zur Zeit bedingte Notwendigkeit im Schicksal Othellos, Don Quijotes, Werthers. Das ist – es war schon gesagt – der Unterschied von Situationstragödie und Charaktertragödie. Aber in der Geschichte selbst wiederholt sich dieser Gegensatz. Jede Epoche des Abendlandes hat Charakter, jede Epoche der Antike stellt nur eine Situation dar. Das Leben Goethes war von schicksalsvoller Logik, das Cäsars von mythischer Zufälligkeit. Hier hat Shakespeare erst die Logik
hineingetragen
. Napoleon ist ein tragischer Charakter; Alkibiades gerät in tragische Situationen. Die Astrologie in der Gestalt, wie sie von der Gotik bis zum Barock das Weltgefühl selbst ihrer Leugner beherrschte, wollte sich des
ganzen
künftigen Lebenslaufes bemächtigen.
Das
faustische Horoskop, dessen bekanntestes Beispiel vielleicht das von Kepler für Wallenstein aufgestellte ist, setzt eine einheitliche und sinnvolle Richtung des gesamten noch zu
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