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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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entwickelnden Daseins voraus. Das antike Orakel, immer auf
einzelne
Fälle bezogen, ist ganz eigentlich das Symbol des sinnlosen Zufalls, des Augenblicks; es gibt das Punktförmige, Zusammenhanglose im Weltlauf zu, und in dem, was man in Athen als Geschichte schrieb und erlebte, waren Orakelsprüche sehr am Platze. Hat je ein Grieche das Bewußtsein einer
historischen Entwicklung
zu irgendeinem Ziele besessen? Haben wir je ohne dies Bewußtsein über Geschichte nachdenken, Geschichte machen können? Vergleicht man die Schicksale Athens und Frankreichs in den entsprechenden Zeiten seit Themistokles und Ludwig XIV., so wird man finden, daß Stil des historischen Fühlens und Stil der Wirklichkeit jedesmal eines sind: hier ein Äußerstes an Logik, dort an Unlogik.
    Man wird jetzt den letzten Sinn dieser bedeutsamen Tatsache verstehen. Geschichte ist die Verwirklichung einer Seele, und der gleiche Stil beherrscht die Geschichte, die man macht, und die, welche man schaut. Die antike Mathematik schließt das Symbol des unendlichen Raumes aus, die antike Geschichte mithin auch. Nicht umsonst ist die Szene des antiken Daseins die kleinste von allen: die einzelne Polis. Es fehlen ihm Horizont und Perspektiven – trotz der Episode des Alexanderzuges – genau wie der Szene des attischen Theaters mit der flach abschließenden Rückwand. Man vergleiche damit die Fernwirkungen der abendländischen Kabinettsdiplomatie wie des Kapitals. Wie die Hellenen und Römer in ihrem Kosmos nur Vordergründe der Natur erkannten und als wirklich anerkannten, unter innerlichster Ablehnung der chaldäischen Astronomie, wie sie im Grunde
nur
Haus-, Stadt- und Feldgottheiten, aber keine Gestirngötter besaßen , [Helios ist nur eine poetische Gestalt. Er hatte weder Tempel noch Statuen noch einen Kult. Noch weniger war Selene eine Mondgöttin.] so
malten
sie auch nur Vordergründe. Niemals ist in Korinth, Athen oder Sikyon eine Landschaft mit Gebirgshorizont, ziehenden Wolken, fernen Städten entstanden. Man findet auf allen Vasengemälden nur Figuren von euklidischer Vereinzelung und künstlerischem Selbstgenügen. Jede Giebelgruppe eines Tempels ist von reihenweisem, niemals von kontrapunktischem Aufbau. Aber man erlebte auch nur Vordergründe. Schicksal war es, was dem Menschen plötzlich zustieß, nicht der »Lauf des Lebens«, und so hat Athen neben dem Fresko Polygnots und der Geometrie der platonischen Akademie die
Schicksalstragödie
ganz im berüchtigten Sinne der »Braut von Messina« geschaffen. Der vollkommene Unsinn des blinden Verhängnisses, verkörpert z. B. im Atridenfluch, offenbarte dem ahistorischen antiken Seelentum den ganzen Sinn seiner Welt.
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    Einige gewagte, aber doch nicht mehr mißzuverstehende Beispiele mögen zur Verdeutlichung dienen. Man denke sich Kolumbus von Frankreich statt von Spanien unterstützt. Das war eine Zeitlang sogar das Wahrscheinliche. Franz I. als Herr Amerikas hätte ohne Zweifel die Kaiserkrone an Stelle des Spaniers Karl V. erhalten. Die frühe Barockzeit vom Sacco di Roma bis zum Westfälischen Frieden, nunmehr in Religion, Geist, Kunst, Politik und Sitte das
spanische
Jahrhundert – das dem Zeitalter Ludwigs XIV. in allem und jedem zur Grundlage und Voraussetzung diente – wäre nicht von Madrid, sondern von Paris aus in Gestalt gebracht worden. Statt der Namen Philipp, Alba, Cervantes, Calderon, Velasquez würden wir heute diejenigen großer Franzosen nennen, die nun – so läßt sich das schwer zu Fassende wohl ausdrücken – ungeboren blieben. Der Stil der Kirche, damals durch den Spanier Ignaz von Loyola und das von seinem Geist beherrschte Tridentiner Konzil endgültig bestimmt, der politische Stil, damals durch spanische Kriegskunst, durch die Kabinettsdiplomatie spanischer Kardinäle und den höfischen Geist des Escorial bis zum Wiener Kongreß und in wesentlichen Zügen noch über Bismarck hinaus festgelegt, die Architektur des Barock, die große Malerei, das Zeremoniell, die vornehme Gesellschaft der großen Städte wären durch andere tiefe Köpfe in Adel und Geistlichkeit, durch andere Kriege als die Philipps II., einen anderen Baumeister als Vignola, einen anderen Hof vertreten worden. Der Zufall wählte die spanische Geste für die abendländische Spätzeit; die
innere Logik
des Zeitalters, das in der großen Revolution – oder einem Ereignis von analogem Gehalt – seine Vollendung finden
mußte
, blieb davon unberührt.
    Die französische Revolution konnte durch ein

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