Der Untergang des Abendlandes
Denken bleibt es unzugänglich. Der »freie Wille« ist eine innere Gewißheit. Aber was man auch wolle oder tue – was wirklich auf alle Entschlüsse erfolgt und aus ihnen folgt, jäh, überraschend, von niemand vorauszusehen, das
dient
einer tieferen Notwendigkeit und fügt sich für den verstehenden Blick, wenn er über das Bild des längst Vergangenen hinschweift, einer großen Ordnung ein. Und da mag man das Unergründliche als Gnade empfinden, wenn das Schicksal eines Gewollten Erfüllung war. Was haben Innocenz III., Luther, Loyola, Calvin, Jansen, Rousseau, Marx gewollt und was ist im Strom der abendländischen Geschichte daraus geworden? War das Gnade oder Verhängnis? Hier endet jede rationalistische Zergliederung beim Widersinn. Die Prädestinationslehre bei Calvin und Pascal – die beide, aufrichtiger als Luther und Thomas von Aquino, die letzten kausalen Folgerungen augustinischer Dialektik zu ziehen wagten – ist die
notwendige
Absurdität, zu welcher die verstandesmäßige Verfolgung dieser Geheimnisse führt. Sie gerät aus der schicksalhaften Logik des Weltwerdens in die kausale Logik der Begriffe und Gesetze, aus der unmittelbaren Anschauung des Lebens in ein mechanisches System von Objekten. Die furchtbaren Seelenkämpfe Pascals sind die eines tiefinnerlichen Menschen, der zugleich geborener Mathematiker war und der die letzten und ernstesten Fragen der Seele gleichzeitig den großen Intuitionen eines inbrünstigen Glaubens und der abstrakten Präzision einer ebenso großen mathematischen Anlage unterwerfen wollte. Dies gab der Schicksalsidee, religiös gesprochen der Vorsehung Gottes,
die schematische Form des Kausalitätsprinzips
, die kantische Form der Verstandestätigkeit also,
denn das bedeutet Prädestination
, in der nun allerdings die von aller Kausalität freie, lebendige und nur als innere Gewißheit zu erlebende Gnade wie eine Naturkraft erscheint, die an unwiderrufliche Gesetze gebunden ist und das religiöse Weltbild in einen starren und düsteren Mechanismus verwandelt. Und war es nicht doch wieder ein Schicksal – für sie wie für die Welt –, wenn die englischen Puritaner von dieser Überzeugung erfüllt, nicht einer tatenlosen Ergebung verfielen, sondern der tatenfrohen Gewißheit, daß ihr Wille der Wille Gottes sei?
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Wenden wir uns nun der weiteren Verdeutlichung des Zufälligen zu, so werden wir nicht mehr Gefahr laufen, in ihm eine Ausnahme oder Durchbrechung des kausalen
Natur
zusammenhanges zu sehen. »Natur« ist
nicht
das Weltbild, in dem das Schicksal wesenhaft wird. Überall, wo der verinnerlichte Blick sich vom Sinnlich-Gewordnen löst und, der Vision sich nähernd, die Umwelt durchdringt, Urphänomene statt bloßer Objekte auf sich wirken fühlt, tritt der große
historische
, der außer- und übernatürliche Aspekt ein: es ist der Blick Dantes und Wolframs, auch der des Goetheschen Alters, als dessen Ausdruck vor allem das Ende des zweiten Faust erscheint. Verweilen wir schauend in dieser Welt von Schicksal und Zufall, so scheint es vielleicht zufällig, daß auf diesem kleinen Gestirn unter Millionen Sonnensystemen sich irgendwann die Episode der »Weltgeschichte« abspielt; zufällig, daß die Menschen, ein seltsames tierartiges Gebilde auf der Rinde dieses Sterns, irgendwann das Schauspiel des »Erkennens« und gerade in dieser, von Kant, Aristoteles und andern so sehr verschieden dargestellten Form bieten; zufällig, daß als Gegenpol dieser Erkenntnis gerade diese Naturgesetze in Erscheinung treten (»ewig und allgemeingültig«) und das Bild einer »Natur« wachrufen, von dem jeder einzelne glaubt, daß es für alle dasselbe sei. Die Physik verbannt – mit Recht – den Zufall aus ihrem Bilde, aber es ist doch wieder Zufall, daß sie selbst überhaupt, irgendwann in der Alluvialperiode der Erdoberfläche, einmal als eine besondere Art von Geistesverfassung in Erscheinung trat.
Die Welt des Zufalls ist die Welt der einmalig-wirklichen Tatsachen, denen wir als Zukunft sehnsüchtig oder angstvoll entgegenleben, die uns als lebendige Gegenwart erheben oder bedrücken, die wir schauend als Vergangenheit mit Freude oder Trauer wiedererleben können. Die Welt der Ursachen und Wirkungen ist die Welt des Beständig-Möglichen, die Welt der zeitlosen Wahrheiten, die man zerlegend und unterscheidend erkennt.
Wissenschaftlich erreichbar, mit Wissenschaft
identisch
ist nur die letzte. Wem der Blick für die andre – die Welt als »Divina commedia«, als
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