Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Untergang

Der Untergang

Titel: Der Untergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
Vom Netzwerk:
Selbstverständlich erschien, riechen zu
können, ob und wann jemand im Sattel gesessen hatte, was seine letzte Mahlzeit gewesen war, oder ob er
in der vergangenen Nacht keusch gewesen war. Einem normalen Menschen war das allerdings nicht
möglich.
»Das stimmt«, gab er überrascht zu. »Unsere Pferde sind oben im Wald. Du hast … sehr scharfe Sinne.«
»Das sagt meine Mutter auch immer«, antwortete das Mädchen lachend, gleichzeitig schüttelte es so
heftig den Kopf, dass seine nassen Haare gegen seine Schultern klatschten.
Und für einen unendlich kurzen Moment veränderte es sich.
Für jene, weniger als einen Atemzug währende Spanne, in der Andrej sein Gesicht eingerahmt von
wehendem nassem Haar und unzähligen, stiebenden Wassertröpfchen sah, die im Gegenlicht der
untergehenden Sonne wie Rubinstaub leuchteten, war es nicht mehr das Gesicht eines Kindes. Auch nicht
das einer Frau oder überhaupt eines Menschen. Die Züge des Mädchens hatten sich nicht wirklich
verändert, und doch wirkten sie plötzlich …
schärfer, härter, bösartiger … Wen hatte er da vor sich? Ein Ding, das vorgab, ein Mensch zu sein?
Andrej blinzelte, und die Illusion verschwand so rasch wie sie gekommen war. Vor ihm stand ein elf- oder
zwölfjähriges Mädchen, das sein Erschrecken bemerkt zu haben schien, denn es sah ihn mit verwirrtem
Blick an, fuhr aber trotzdem fort:
»Aber es stimmt nicht. Ich liebe Pferde und verbringe fast mehr Zeit im Stall als sonst wo. Deshalb kenne
ich ihren Geruch so gut.«
»Das ist … sehr interessant«, murmelte Andrej. Es fiel ihm schwer, überhaupt zu sprechen, und er war
auch nicht sicher, ob er die Worte des Mädchens richtig verstanden hatte. Sein Herz raste. Alles in ihm
befand sich in Aufruhr. Er spürte, wie seine Finger zu zittern begannen, ohne dass er etwas dagegen tun
konnte. Aus aufgerissenen Augen starrte er das Mädchen an. Er suchte nach etwas in ihrem Blick.
Nichts. Er hatte sich getäuscht. Seine Nerven hatten ihm einen bösen Streich gespielt, wie so oft in letzter
Zeit. Dieses Kind war ein Kind, nichts anderes.
Dennoch schloss er für einen Moment die Augen und lauschte in sich hinein. Er tastete mit seinen
geheimen Sinnen nach der Seele seines Gegenübers, jenen unsichtbaren und unheimlichen Kräften, die er
selbst kaum besser verstand als Abu Dun oder die wenigen anderen Menschen, denen er sein Geheimnis
jemals offenbart hatte; jenes Geheimnis, das für ihn Segen und Fluch zugleich war. Aber er fühlte nichts.
»Herr?«
Andrej öffnete die Augen, blinzelte ein paar Mal und zwang schließlich ein verunglücktes Lächeln auf
seine Züge. »Es ist nichts«, beteuerte er. »Entschuldige, wenn ich dich erschreckt habe. Ich war in
Gedanken. Du brauchst dich nicht zu fürchten.«
»Aber das tue ich nicht«, versicherte das Mädchen. Es schüttelte wieder den Kopf, diesmal aber, ohne
dass sich seine Züge veränderten. »Mein Vater hat mir gezeigt, wie man sich verteidigt, wenn es sein
muss.«
»Dann scheint mir dein Vater kein sehr kluger Mann zu sein«, sagte Abu Dun, der mittlerweile ganz
herangekommen war und den letzten Teil des Gesprächs mitangehört hatte. Andrejs sonderbares
Benehmen schien ihm ebenfalls nicht entgangen zu sein, denn er sah ihn mit einer Mischung aus Neugier
und leiser Besorgnis an, fuhr aber dann, sich an das Mädchen wendend, fort: »Er hätte dir lieber
beibringen sollen, wie man rechtzeitig wegläuft.«
»Weglaufen? Aber wozu? Wenn ich der Meinung gewesen wäre, dass Ihr mir Übles wollt, dann hätte ich
Euch längst getötet.« Die Hand des Mädchens verschwand hinter seinem Rücken und kam mit einem
kurzen, zweischneidig geschliffenen Dolch wieder zum Vorschein. »Ich habe eine Waffe. Hier, seht Ihr?«
Abu Duns Gesicht verdüsterte sich. »Ich muss mich korrigieren«, sagte er. »Dein Vater ist ein
Dummkopf.«
»Das sagt meine Mutter auch manchmal«, kicherte das Mädchen. »Aber nur, wenn er es nicht hört.«
»Interessant«, murmelte Andrej. »Aber jetzt müssen wir weiter. Ich danke dir, dass du uns den Weg
gewiesen hast.«
Ruckartig drehte er sich um und machte dabei eine fast herrische Handbewegung in Abu Duns Richtung.
»Komm!«
Der Nubier sah ihn verblüfft an, zuckte dann aber nur die Achseln und folgte ihm. Als sie einige Schritte
gegangen waren fragte er: »Was ist los?«
»Nichts«, antwortete Andrej ausweichend. »Es ist nur …«
»Ihr Haar?«
»Dieses Mädchen«, gestand Andrej, »ist mir unheimlich. Irgendetwas stimmt nicht mit ihr.«
Abu

Weitere Kostenlose Bücher