Der Untergang
schützend vor die Brust zu legen
und den Angriff abzuwehren.
Doch er tat es nicht. Nicht, dass er es nicht konnte. Da waren keine unsichtbaren Fesseln, die ihn hielten,
kein übermächtiger Wille, der den seinen blockierte.
Er tat es nicht, und das schwarzhaarige Mädchen stieß ihm die Messerklinge direkt ins Herz.
Andrej entfuhr ein entsetztes Röcheln. Kurz starrte er das Messer, das aus seiner Brust ragte, mit der
gleichen Fassungslosigkeit an, mit der Abu Dun zuvor seine eigenen Hände betrachtet hatte, dann wurde
es schwarz um ihn.
Er starb. Allerdings nur in dem Maß, in dem es einem Geschöpf wie ihm möglich war. Und so dauerte es
nicht lange, bis das Leben in seinen Körper zurückkehrte. Und wie immer war das Erwachen eine Qual.
Der Schmerz war nicht das Schlimmste. Er war im Laufe seines Lebens so oft verletzt worden, dass es ihm
kaum noch etwas ausmachte. Aber die seelische Folter, die damit einherging, schien von Mal zu Mal
unerträglicher zu werden. Er hatte die Schwelle berührt - wie oft nun schon? -, und er hatte gespürt, was
dahinter lag: Das Versprechen eines allumfassenden Friedens und immerwährender Ruhe, nach der er sich
mehr sehnte als nach allem anderen. Diesmal war er der Schwelle so nahe gekommen wie nie zuvor. Nahe
genug, um das verlockende Flüstern dahinter zu hören und das Licht zu spüren, das auf ihn wartete.
Und wieder war er zurückgerissen worden. Vielleicht war das seine Strafe: Diesen ewigen Frieden stets
nur erahnen, ihn aber niemals erlangen zu dürfen.
Andrej öffnete die Augen und drehte vorsichtig den Kopf. Er konnte nicht allzu lange bewusstlos gewesen
sein, denn der Kampf, den sich Abu Dun mit den vier Kindern lieferte, war noch immer in vollem Gange.
Abu Dun keuchte vor Anstrengung und blutete aus mehr als einem halben Dutzend - allerdings
ausnahmslos harmloser - Wunden.
Andrej begriff, dass sich Abu Dun in höchster Gefahr befand.
Die vier Kinder attackierten den riesigen Nubier ohne Unterlass, schlugen nach ihm, versuchten, ihn zu
treten und zerkratzten ihm mit den Fingernägeln Gesicht und Hände. Und Abu Dun tat nicht das
Geringste, um sich zu wehren! Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, die vier der Reihe nach
niederzuschlagen, auch ohne sie dabei schwer zu verletzen. Aber er unternahm nicht einmal den Versuch,
sich zu verteidigen. Stattdessen beschränkte er sich so gut es eben ging darauf, den Hieben, Tritten und
Fauststößen auszuweichen. Und obwohl er dabei eine schier unglaubliche Behändigkeit an den Tag legte,
wurde er oft genug getroffen. Nicht nur von Fäusten, Füßen und Ellbogen, sondern auch von dem Messer,
das dass Mädchen immer noch schwang.
Früher oder später würde sie es nicht bei einem harmlosen Schnitt oder einem kleinen Stich bewenden
lassen.
Andrej sah dem grausamen Spiel noch einen Augenblick lang zu, dann fasste er einen Entschluss. Wäre er
allein gewesen, dann hätte er einfach die Augen geschlossen und sich tot gestellt, bis diese mörderische
Kinderbande verschwunden war. Aber es ging nicht nur um ihn. Jetzt, da sie ihn für tot hielten,
konzentrierten sich die vier Angreifer ganz auf Abu Dun, und anders als Andrej würde der Nubier tot
bleiben, wenn er es einmal war. Er musste ihm helfen, auch wenn das, was er dazu tun musste, so schlimm
war, dass ihm allein bei dem Gedanken daran übel wurde.
Wie um Andrejs letzte Zweifel zu vertreiben, sprang das Mädchen in diesem Moment vor und stieß mit
dem Messer zu.
Mit einer hastigen Bewegung wollte Abu Dun dem Angriff ausweichen, aber er war nicht schnell genug.
Tief grub sich die Klinge in seine Wade, und der Nubier sank keuchend auf die Knie.
Sofort trat einer der beiden kleineren Jungen von hinten an ihn heran und schmetterte ihm einen Stein auf
den Schädel. Abu Duns überdimensionaler Turban nahm dem Hieb zwar die größte Wucht, sodass er ihm
vermutlich nicht den Schädel zertrümmert hatte, aber er reichte aus, um ihm auf der Stelle das
Bewusstsein zu rauben. Haltlos kippte er nach vorn. Das war der Augenblick, in dem Andrej aufsprang
und das Schwert aus dem Gürtel riss.
»Aufhören!«, schrie er.
Die Faust mit dem zweischneidigen Dolch und mehrere mit Steinen bewaffnete Hände, die bereits zum
entscheidenden Schlag erhoben waren, erstarrten mitten in der Bewegung. Die Kinder wandten sich in
seine Richtung.
»Ich dachte, du bist tot«, entfuhr es dem älteren Jungen.
»Das dachte ich auch«, pflichtete ihm seine Schwester bei. »Ich war sogar sicher, dass er tot ist … Er
Weitere Kostenlose Bücher