Der Untertan
die sich um den Prozeß gruppierten, hatten ihr Eindruck gemacht, aber noch nicht genug. Auch hörte er nichts mehr von Wulckow. Nach dem so vielversprechenden Schritt des Regierungspräsidenten beim Kriegerverein wartete Diederich unbestimmt auf weiteres: eine Heranziehung, eine vertrauliche Verwendung, er wußte nicht, wie und was. Der Harmonieball konnte es bringen, warum hatten sonst die Schwestern Rollen bekommen im Stück der Präsidentin. Nur dauerte alles zu lange für Diederichs Tatenlust. Es war eine Zeit voll Unruhe und Drang. Man quoll über von Hoffnungen, Aussichten, Plänen; in jeden Tag, der anfing, hätte man das alles auf einmal ergießen wollen, und wenn es aus war, war er leer geblieben. Ein Trieb nach Bewegung erfaßte Diederich. Mehrmals versäumte er den Stammtisch und ging spazieren, ohne Ziel und ins Freie, was sonst nicht vorkam. Er kehrte dem Mittelpunkt der Stadt den Rücken, stapfte mit dem Schritt eines von Tatkraft schweren Mannes die abendlich leere Meisestraße zu Ende, durchmaß die lange Gäbbelchenstraße, mit den vorstädtischen Gasthäusern, bei denen Fuhrleute ein- oder ausspannten, und kam auch unter der Vogtei vorbei. Dort oben saß, bewacht von einem Gitterfenster und einem Soldaten, der Herr Lauer, der sich dies nicht hatte träumen lassen. ›Hochmut kommt vor dem Fall‹, dachte Diederich. ›Wie man sich bettet, so liegt man.‹ Und obwohl er den Ereignissen, die den Fabrikbesitzer in die Vogtei geführt hatten, nicht ganz fremd war, schien Lauer ihm jetzt ein Wesen mit einem Kainsmal, ein unheimlicher Gesell. Einmal glaubte er, im Hof des Gefängnisses eine Gestalt zu bemerken. Es war schon zu dunkel, aber vielleicht —? Ein Gruseln überlief Diederich, und er enteilte.
Hinter dem Burgtor führte die Landstraße zu dem Hügel mit der Schweinichenburg, wo einst der kleine Diederich gemeinsam mit Frau Heßling das Grausen vor dem Burggespenst genossen hatte. Solche Kindereien lagen ihm jetzt fern — vielmehr bog er jedesmal, bald hinter dem Tor, in die Gausenfelder Straße ein. Er hatte es sich nicht vorgenommen und tat es nur zögernd, denn es wäre ihm nicht lieb gewesen, wenn jemand ihn auf diesem Wege überrascht hätte. Aber es ließ ihn nicht: die große Papierfabrik zog ihn an wie ein verbotenes Paradies, er mußte ihr auf einige Schritte nahe kommen, sie umkreisen, über ihre Mauer schnüffeln... Eines Abends ward Diederich aus dieser Tätigkeit aufgeschreckt durch Stimmen, die im Dunkeln schon ganz nahe waren. Kaum daß er noch die Zeit behielt, sich in den Graben zu kauern. Und während die Leute, wahrscheinlich Angestellte der Fabrik, die sich verspätet hatten, an seinem Versteck vorüberkamen, drückte Diederich die Augen zu, aus Furcht und auch weil er fühlte, ihr begehrliches Funkeln hätte ihn verraten können.
Als er schon wieder beim Burgtor war, hatte er noch immer Herzklopfen und sah sich nach einem Glas Bier um. Gleich im Winkel des Tores stand der Grüne Engel, eins der niedersten Gasthäuser, krumm vor Alter, schmutzig und übel beleumdet. Soeben verschwand in dem gewölbten Gang eine Frauensperson. Diederich, von jäher Abenteuerlust gepackt, drang hinterdrein. Wie sie das rötliche Licht einer Stallaterne durchschreiten mußte, wollte die Person ihr Gesicht, das verschleiert war, auch noch mit dem Muff bedecken; aber Diederich hatte sie schon erkannt. »Guten Abend, Fräulein Zillich!« — »Guten Abend, Herr Doktor!« Und da standen sie beide mit offenem Munde. Käthchen Zillich war die erste, die etwas hervorbrachte, von Kindern, die hier im Hause wohnten und die sie in die Sonntagsschule ihres Vaters bringen sollte. Diederich setzte zum Sprechen an, aber sie redete weiter, immer hastiger. Nein, die Kinder wohnten eigentlich nicht hier, aber ihre Eltern verkehrten in der Schenke, und die Eltern durften nichts wissen von der Sonntagsschule, denn sie waren Sozialdemokraten... Sie faselte; und Diederich, der zuerst nur an sein eigenes schlechtes Gewissen gedacht hatte, ward darauf hingewiesen, daß Käthchen in einer noch viel verdächtigeren Lage sei. Er ersparte es sich also, seine Anwesenheit im Grünen Engel zu erklären, und schlug einfach vor, dann könne man in der Gaststube auf die Kinder warten. Käthchen weigerte sich angstvoll, irgend etwas zu verzehren, aber Diederich bestellte aus eigener Machtvollkommenheit auch für sie Bier. »Prost!« sagte er, und in seiner Miene lag die ironische Erinnerung daran, daß sie bei ihrer letzten
Weitere Kostenlose Bücher