Der Untertan
sie durch die Halme spähten, war es ein alter Mann mit einer Pelzkappe, rostroter Jacke und Samthosen, die auch schon rötlich waren. Seinen Bart hatte er sich, zusammengekrümmt, um die Knie gewickelt. Sie bückten sich tiefer, um ihn zu erkennen. Da merkten sie, daß er sie schon längst aus schwarzen Funkelaugen ansah. Unwillkürlich schritten sie schneller aus, und in den Blicken, die sie einander zuwandten, stand Märchengrauen. Sie blickten umher: Sie waren in einem weiten, fremden Land, die kleine Stadt dort hinten schlief fremdartig in der Sonne, und selbst der Himmel sah ihnen aus, als seien sie Tag und Nacht gereist.
Wie abenteuerlich das Mittagessen in der Laube des Wirtshauses, mit der Sonne, den Hühnern, dem offenen Küchenfenster, aus dem Agnes sich die Teller reichen ließ. Wo war die bürgerliche Ordnung der Blücherstraße, wo Diederichs angestammter Kneiptisch? »Ich gehe nicht wieder fort von hier«, erklärte Diederich. »Dich laß ich auch nicht fort.« Und Agnes: »Warum denn auch? Ich schreibe meinem Papa und laß es ihm durch meine Freundin schicken, die in Küstrin verheiratet ist. Dann glaubt er, ich bin dort.«
Später gingen sie nochmals aus, nach einer anderen Seite, wo Wasser floß und der Horizont von den Flügeln dreier Windmühlen umsegelt ward. Im Kanal lag ein Boot; sie mieteten es und schwammen dahin. Ein Schwan kam ihnen entgegen. Der Schwan und ihr Boot glitten lautlos aneinander vorbei. Unter herniederhängenden Büschen legte es von selbst an — und Agnes fragte unvermittelt nach Diederichs Mutter und seinen Schwestern. Er sagte, daß sie immer gut zu ihm gewesen seien und daß er sie liebhabe. Er wollte sich die Bilder der Schwestern schicken lassen, sie waren hübsch geworden; oder vielleicht nicht hübsch, aber so anständig und sanft. Die eine, Emmi, las Gedichte, wie Agnes. Diederich wollte für beide sorgen und sie verheiraten. Seine Mutter aber, die behielt er bei sich, denn ihr hatte er alles Gute im Leben verdankt, bis Agnes gekommen war. Und er erzählte von den Dämmerstunden, den Märchen unter den Weihnachtsbäumen seiner Kinderzeit und sogar von dem Gebet »aus dem Herzen«. Agnes hörte zu, ganz versunken. Endlich seufzte sie auf. »Deine Mutter möchte ich kennenlernen. Meine hab ich nicht gekannt.« Er küßte sie, mitleidig, achtungsvoll und mit einer dunklen Empfindung von schlechtem Gewissen. Er fühlte: jetzt hatte er ein Wort zu sprechen, das sie ganz und für immer trösten mußte. Aber er schob es hinaus, er konnte nicht. Agnes sah ihn tief an. »Ich weiß«, sagte sie langsam, »daß du im Herzen ein guter Mensch bist. Du mußt nur manchmal anders tun.« Darüber erschrak er. Dann sagte sie, als entschuldigte sie sich: »Heute habe ich gar keine Furcht vor dir.«
»Hast du denn sonst Furcht?« fragte er reumütig. Sie sagte: »Ich habe mich immer gefürchtet, wenn die Leute recht hochgemut und lustig waren. Bei meinen Freundinnen früher war es mir oft, als könnte ich mit ihnen nicht Schritt halten, und sie müßten es merken und mich verachten. Sie merkten es aber nicht. Schon als Kind: ich hatte eine Puppe mit großen blauen Glasaugen, und als meine Mutter gestorben war, mußte ich nebenan bei der Puppe sitzen. Sie sah mich immer starr an mit ihren aufgerissenen harten Augen, die sagten mir: Deine Mutter ist tot, jetzt werden dich alle so ansehen wie ich. Gerne hätte ich sie auf den Rücken gelegt, damit sie die Augen schloß.
Aber ich wagte es nicht. Hätte ich denn auch die Menschen auf den Rücken legen können? Alle haben solche Augen, und manchmal —«, sie verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter, »manchmal sogar du.«
Der Hals war ihm zugeschnürt, er tastete über ihren Nacken, und seine Stimme schwankte. »Agnes! Süße Agnes, du weißt gar nicht, wie ich dich liebhabe... Ich hab Furcht vor dir gehabt, ja, ich! Drei Jahre lang hab ich mich nach dir gesehnt, aber du warst zu schön für mich, zu fein, zu gut...« Sein ganzes Herz schmolz; er sagte alles, was er ihr nach ihrem ersten Besuch geschrieben hatte, in dem Brief, der noch in seinem Schreibtisch lag. Sie hatte sich aufgerichtet und hörte ihm zu, entzückt, die Lippen geöffnet. Sie jubelte leise: »Ich wußte es, so bist du, du bist wie ich!«
»Wir gehören zusammen!« sagte Diederich und preßte sie an sich; aber er war erschrocken über seinen Ausruf. ›Jetzt wartet sie‹, dachte er, ›jetzt soll ich sprechen.‹ Er wollte es, aber er fühlte sich gelähmt. Der Druck
Weitere Kostenlose Bücher