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Der untröstliche Witwer von Montparnasse

Der untröstliche Witwer von Montparnasse

Titel: Der untröstliche Witwer von Montparnasse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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gegen die Decke, um den Weltkriegshistoriker herunterzurufen. Clement, der das System in den drei Tagen, die er jetzt hier war, kapiert hatte, sah ihm lächelnd zu.
    »Ich mach das genauso mit den Äpfeln, damit sie runterfallen«, sagte er vergnügt.
    »Hier fällt auch gleich einer runter«, bestätigte Marc. »Du wirst sehen.«
    Eine Minute später kam Lucien die Treppe hinuntergestürzt und betrat das Refektorium mit einem Buch in der Hand.
    »Bin ich dran mit Wache?« fragte er.
    »Ja. Paß gut auf ihn auf, er war vorhin ein bißchen unruhig.«
    Lucien deutete einen kurzen militärischen Gruß an und warf seine Haarsträhne nach hinten, die ihm den Blick versperrte.
    »Mach dir keine Sorgen«, sagte er. »Gehst du weit weg?«
    »Auf den Friedhof«, antwortete Marc und zog eine kleine schwarze Leinenjacke an.
    »Aha, reizend. Wenn du Clemenceau begegnest, übermittle ihm meinen Gruß. Gute Reise, Soldat.«
    Und Lucien machte es sich auf der Bank bequem, ohne sich noch um irgend jemanden zu kümmern, lächelte Clement zu und schlug sein Buch auf: 1914-1918: Die Heldenkultur.
     

21
     
    Louis hatte eingewilligt, den Bus zu nehmen, um zum Friedhof von Montparnasse zu kommen. Die beiden Männer liefen jetzt rasch durch die Nacht.
    »Er ist schon ein bißchen komisch, oder?« bemerkte Louis.
    »Er konnte nicht wissen, daß du den ›Schnitter‹ gesucht hast«, erwiderte Marc. »Man muß ihn verstehen.«
    »Nein, ich rede von deinem Kollegen Lucien. Er ist komisch. Finde ich.«
    Marcs Züge spannten sich. Er billigte sich selbst das uneingeschränkte Recht zu, Lucien und Mathias schlechtzumachen und den einen wie den anderen zu beschimpfen, aber er ertrug es nicht, daß ein anderer ihnen auch nur ein Haar krümmte - und sei es Louis.
    »Er ist nicht im geringsten komisch«, antwortete er mit schneidender Stimme.
    »Vielleicht. Ich weiß nicht, wie du ihn das ganze Jahr über erträgst.«
    »Sehr gut«, log Marc.
    »Schon gut, reg dich nicht auf. Er ist schließlich nicht dein Bruder.«
    »Was weißt du denn?«
    »Schon gut, Marc, vergiß, was ich gesagt habe. Ich frage mich nur, ob man ihm vertrauen kann. Ich mache mir ein bißchen Sorgen, ob es gut war, ihm Clement anzuvertrauen, er macht nicht gerade den Eindruck, als ob er richtig kapiert, worum es hier geht.«
    »Hör mal zu«, sagte Marc, blieb stehen und fixierte die hochgewachsene Silhouette des Deutschen in der Nacht. »Lucien kapiert sehr gut, worum es geht, und außerdem ist er intelligenter als wir beide zusammen. Da brauchst du dir wirklich keine Sorgen zu machen.«
    »Wenn du es sagst.«
    Marc hatte sich beruhigt und besah sich die lange Mauer, die den Friedhof von Montparnasse umschloß.
    »Wo gehen wir rein?«
    »Über die Mauer.«
    »Du bist ein Kletterer. Aber ich hinke. Wo gehen wir rein?«
    Marc besah sich die Umgebung.
    »Da, die großen Mülltonnen. Damit kommst du rüber.«
    »Sehr gute Idee«, bemerkte Louis.
    »Gerade die Mülltonnen waren immer eine Idee von Lucien.«
    Die beiden Männer warteten, bis sich eine Gruppe von Passanten entfernt hatte, und zogen eine der hohen Tonnen in die Rue Froidevaux.
    »Wie kriegen wir raus, ob er da ist?« fragte Marc. »Der Friedhof ist groß. Außerdem hat er zwei Teile.«
    »Wenn er da ist, hat er vermutlich Licht brennen. Das suchen wir.«
    »Warum warten wir nicht bis morgen?«
    »Weil die Zeit drängt und weil es gut ist, wenn wir ihn nachts und allein erwischen und in die Enge treiben können. Nachts sind die Leute schwächer.«
    »Nicht alle.«
    »Hör auf zu schwätzen, Marc.«
    »O. k. Ich helfe dir auf die Mülltonne. Dann klettere ich auf die Mauer und zieh dich zu mir hoch.«
    »Sehr gut, also los.«
    Marc hatte trotzdem etwas Schwierigkeiten. Kehlweiler wog sechsundachtzig Kilo und war einen Meter neunzig groß. Marc fand das übertrieben und ein bißchen beleidigend.
    »Hast du eine Lampe mitgenommen?« fragte Louis etwas atemlos, als sie schließlich beide auf dem Friedhofsgelände standen.
    Er war verärgert wegen seines Anzugs. Er hatte Angst, er sei hin.
    »Wir brauchen im Moment keine. Man sieht ja alles, hier steht ja kein Baum.«
    »Ja, das ist hier auch der jüdische Teil des Friedhofs. Geh langsam zu den Bäumen dort drüben.«
    Marc ging lautlos voran. Die Anwesenheit von Louis, der hinter ihm ging, beruhigte ihn. Ihn schüchterte weniger der Ort ein - obwohl er nicht gerade besonders mutig war - als die Vorstellung von diesem Mann, dem ›Schnitter‹, der irgendwo im Dunkeln mit

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