Der untröstliche Witwer von Montparnasse
er im Ton eines verdrießlichen Geständnisses.
»Er macht keinen sehr sympathischen Eindruck«, sagte Louis und besah sich das Porträt.
»Nein. Er hat sogar ein ziemlich häßliches, kleines Idiotengesicht ... Aber Gesichter ... Was sagt das? Und Idioten ... Was sagt das schon aus? Ich habe den Jungen gemocht. Jetzt, wo wir beide wissen, wovon wir reden: Wie weit sind die Ermittlungen? Ist die Polizei von seiner Schuld überzeugt?«
»Ja, sicher. Seine Akte ist erdrückend, er hat keinerlei Chance, da rauszukommen. Aber sie wissen seinen Namen noch nicht.«
»Sie aber wissen ihn«, sagte Merlin und streckte seinen langen Finger aus. »Warum sagen auch Sie der Polizei nichts?«
»Irgend jemand wird es tun«, sagte Louis und verzog das Gesicht. »Eine Frage von Stunden. Vielleicht ist es schon geschehen, während wir hier reden.«
»Halten Sie ihn nicht für schuldig?« fragte Merlin. »Sie scheinen daran zu zweifeln.«
»Ich zweifle unaufhörlich, das ist ein Reflex. Mir ist sein Fall zu klar, die Beweislast zu erdrückend. Die Frauen tagelang vor aller Augen zu überwachen, seine Fingerabdrücke an Ort und Stelle zu hinterlassen - all das scheint sehr übertrieben ... Und, wie man weiß, ist das allzu Offensichtliche selten wahr.«
»Man sieht, daß Sie Vauquer nicht gekannt haben ... Er ist schlicht, sehr schlicht. Was stört Sie?«
»Die Vergewaltigung im Institut. Er hat die Schuld nicht der Frau zugeschoben. Im Gegenteil, er hat sie verteidigt.«
»Ja, das glaube ich immer noch.«
»Und jetzt massakriert er die Frauen? Das geht nicht zusammen.«
»Es sei denn, diese brutale Szene und später seine Entlassung hätten seinen empfindlichen Kopf endgültig platzen lassen ... Weiß man's?« fügte Merlin leise hinzu, während er sich das Bild ansah. »Ich habe den Jungen gemocht, und er hat die Frau verteidigt, wie Sie ganz richtig sagen. Wenn es regnete, suchte er immer in den Unterrichtsräumen Zuflucht, und er hörte dem Unterricht zu, Französisch, Wirtschaft ... Nach fünf Jahren solcher Kost hat er schließlich ein ziemliches Kauderwelsch geredet ...«
Merlin lächelte.
»Häufig kam er in mein Büro, um den Efeu zu schneiden, der die Fenster umrankte, und um sich um die Grünpflanzen zu kümmern ... Wenn die Buchhaltung des Instituts mir ein bißchen Zeit ließ, dann habe ich ihm die ein oder andere Partie angeboten. Oh ... es ging nicht sehr weit ... Würfel, Domino, Kopf oder Zahl ... Das hat ihm Spaß gemacht ... Monsieur Henri, der Lehrer für Wirtschaft, hat sich auch um ihn gekümmert. Er hat ihm das Akkordeonspielen nach Gehör beigebracht. Sie hätten's nicht geglaubt, er war begabt, wirklich begabt. Na ja ... wir haben versucht, ihn ein bißchen zu schützen.«
Merlin wedelte mit dem Zeitungsausschnitt.
»Und dann ... geht alles kaputt ...«
»Das glaube ich nicht«, wiederholte Louis. »Ich denke, daß jemand Vauquer benutzt und sich zugleich rächt.«
»Einer der Vergewaltiger?«
»Einer der Vergewaltiger. Sie könnten mir vielleicht helfen.«
»Glauben Sie wirklich daran? Gibt es auch nur die geringste Chance, daß Sie recht haben?«
»Mehrere Chancen.«
Nach diesen Worten lehnte Merlin sich in seinen Schwingsessel zurück und schwieg. Der Lärm der Schleifmaschine gellte immer noch unermüdlich in den Ohren. Merlin spielte mit zwei kleinen Münzen, die er zwischen die Finger einer Hand klemmte, sie fallenließ, wieder auffing und festklemmte. Er bewegte die Lippen, seine Lider fielen über seine schwermütigen Augen.
Er dachte nach, und das dauerte. Louis fand, daß die sympathische Amphibie sogar mehr als nur nachdachte. Es schien, als suchte er eine gewisse Ergriffenheit zu meistern, bevor er weiterredete. So vergingen fast drei Minuten. Louis hatte sich damit begnügt, seine langen Beine unter dem Schreibtisch auszustrecken, und wartete. Plötzlich erhob sich Merlin und riß mit einer abrupten Bewegung das Fenster auf.
»Stell deine Maschine ab!« schrie er, während er sich über das kleine Geländer lehnte. »Stell sie bitte ab! Ich habe Besuch hier!«
Dann schloß er das Fenster und blieb stehen.
Man hörte, wie das Sirren der Maschine leiser wurde und schließlich aufhörte.
»Mein Schwiegervater«, sagte Merlin erklärend und seufzte erbittert. »Unaufhörlich mit seinen Höllenmaschinen beschäftigt, sogar am Sonntag. Im Institut hatte ich ihn mit seiner Schreinerei in die hinterste Ecke des Parks verbannt, da hatte ich Ruhe. Aber hier ist es seit fünf Jahren
Weitere Kostenlose Bücher