Der Ursprung des Bösen
Weise mit dem Verbrechen vertraut zu machen.
»Wir sind da.«
Die Projektoren der Spurensicherung sahen aus wie ferne, kalte Monde in der Nacht. Die Strahlen der Taschenlampen zeichneten weiße Lichtbänder in die Dunkelheit. In einiger Entfernung konnte man das Bahnbetriebswerk erahnen, in dem Lokomotiven und Draisinen unter einer silbrig feuchten Patina schimmerten. Auch Rangierloks, die Gegenstücke zu den Lotsenschiffen im Hafen, waren dort abgestellt. Die wuchtigen schwarzen Maschinen wirkten wie schweigsame Titanen.
Sie krochen unter den Absperrbändern hindurch und erreichten den Fundort der Leiche. Am Rand der Reparaturgrube standen die verchromten Stative der Projektoren. Techniker der Spurensicherung in weißen Overalls mit blauen Schriftzügen machten sich unten zu schaffen. Anaïs wunderte sich, dass sie bereits zur Stelle waren, denn das nächstgelegene Labor befand sich in Toulouse.
»Möchten Sie die Leiche sehen?«
Vor ihr stand ein Polizist in einer Regenjacke, über die er die Sicherheitsweste gezogen hatte. Mit entschlossener Miene nickte sie. Innerlich kämpfte sie gegen den Nebel, ihre Ungeduld und eine gewisse Erregung an. Auf der Universität hatte ein Juraprofessor sie eines Tages im Flur angehalten und ihr zugeflüstert: »Sie sind wie die Alice im Wunderland von Lewis Carroll. Ihre Aufgabe besteht darin, eine Welt zu finden, die Ihrer würdig ist.« Seither waren acht Jahre vergangen, und sie lief auf dem Weg zu einer Leiche zwischen Bahngleisen hindurch. Eine Welt, die Ihrer würdig ist …
Auf dem Grund der Grube, die etwa fünf Meter lang und zwei Meter breit war, herrschte das rege Treiben, das an Leichenfundorten üblich war, allerdings in einer gedrängten Version. Die Techniker benutzten ihre Ellbogen, um sich Platz zu schaffen, fotografierten, suchten jeden Millimeter des Bodens mit Speziallampen ab – Leuchten mit einem begrenzten Spektralbereich von Infrarot bis Ultraviolett – und versiegelten jedes noch so kleine Fundstück in besonderen Plastiktüten.
Schließlich entdeckte Anaïs im Gewimmel auch die Leiche. Es handelte sich um einen jungen Mann von etwa zwanzig Jahren. Er war nackt, sehr mager und fast am ganzen Körper tätowiert. Seine Knochen traten spitz hervor, und da, wo die Haut nicht mit Tattoos bedeckt war, schimmerte sie in einem fast phosphoreszierenden Weiß. Die Schienenstränge, die rechts und links an der Grube vorbeiführten, verliehen dem Ganzen eine Art Rahmen. Anaïs musste an ein Renaissancegemälde denken. Ein Märtyrer mit blassem Fleisch, der sich in schmerzlicher Haltung in der Tiefe einer Kirche krümmt.
Der wirkliche Schock jedoch war der Kopf.
Der Kopf war nicht menschlich, sondern gehörte zu einem Stier.
Mächtig, tiefschwarz und mindestens fünfzig Kilo schwer, war er am unteren Ende des Nackens abgetrennt worden.
Erst nach und nach wurde Anaïs klar, was sie da sah. Und es war kein Traum! Sie spürte, wie die Knie unter ihr nachgaben. Trotzdem bückte sie sich und musterte den Toten. Um nicht umzukippen, klammerte sie sich an ihre ersten Erkenntnisse. Es gab nur zwei Lösungen. Entweder hatte der Mörder sein Opfer geköpft und ihm stattdessen den Stierkopf auf die Schultern gesetzt, oder er hatte die Trophäe über den Schädel des jungen Mannes gestülpt.
In beiden Fällen lag das Symbol klar zutage: Man hatte den Minotaurus getötet. Einen modernen Minotaurus, verloren im Labyrinth der Gleise. Das Labyrinth .
»Kann ich hinuntersteigen?«
Jemand reichte ihr Überschuhe und eine Papierhaube. Sie stieg die Eisenleiter hinunter in die Grube. Die Männer von der Spurensicherung traten beiseite. Anaïs kauerte nieder und untersuchte das, was sie am meisten interessierte: den monströsen Stierkopf, der auf dem Körper eines Menschen saß.
Die zweite Möglichkeit stellte sich als die richtige heraus. Der Rinderkopf war mit voller Wucht über den Kopf des Opfers gestülpt worden. Der Schädel des jungen Mannes musste ziemlich zerquetscht sein.
»Ich glaube, er hat den Hals des Stiers von innen ausgehöhlt.«
Anaïs drehte sich zu der Stimme um, die sie angesprochen hatte. Michel Longo, der Gerichtsmediziner. Weil er wie alle anderen als Kapuzengespenst verkleidet war, hatte sie ihn nicht gleich erkannt.
»Seit wann ist er tot?«, fragte sie und erhob sich.
»Ganz genau kann ich es noch nicht sagen. Aber seit mindestens vierundzwanzig Stunden. Die Kälte und der Nebel machen die Sache allerdings komplizierter.«
»Glauben Sie,
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