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Der Ursprung des Bösen

Der Ursprung des Bösen

Titel: Der Ursprung des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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dass er schon die ganze Zeit hier liegt?«
    Der Arzt zuckte die Schultern. Unter seiner Kapuze trug er eine Brille von Persol.
    »Vielleicht hat der Mörder ihn auch heute Abend erst hier abgelegt. Wir wissen es nicht.«
    Anaïs dachte an den Nebel, der seit vielen Stunden über der Stadt lag. In dieser Suppe hatte der Mörder tätig werden können, wann immer es ihm gefiel.
    »Hallo!«
    Anaïs hob den Kopf und schützte ihre Augen unter vorgehaltener Hand. Am Rand der Grube hob sich die Gestalt einer Frau gegen den weißen Lichthof der Projektoren ab. Selbst im Gegenlicht erkannte Anaïs sie. Es war Véronique Roy, die Stellvertreterin des Oberstaatsanwalts und eine Art Double von Anaïs. Eine höhere Tochter aus dem Großbürgertum von Bordeaux, knapp dreißig Jahre alt, die fast die gleiche Ausbildung genossen hatte wie Anaïs. Sie kannten sich von den teuren Privatschulen, hatten beide die Universität Montesquieu besucht und sich immer wieder mal auf den Toiletten der angesagtesten Discos der Stadt getroffen. Nie waren sie Freundinnen gewesen, aber einander auch nicht feindlich gesinnt. Inzwischen war es meistens die Arbeit, die sie zusammenführte. Einmal bei einem Mann, der sich erhängt hatte, einmal bei einer Frau, der das halbe Gesicht weggerissen worden war, weil ihr Mann eine Mikrowelle nach ihr geworfen hatte; das letzte Mal war es ein junges Mädchen mit durchschnittener Kehle gewesen. Alles keine Grundlagen für echte Freundschaft.
    »Hallo«, murmelte Anaïs.
    Die Vertreterin der Staatsanwaltschaft stand hoch über ihr am Rand der Grube und strahlte im Licht. Sie trug ein Lederblouson von Zadig & Voltaire, um das Anaïs schon seit einiger Zeit begehrlich herumschlich.
    »Das ist ja grausig«, murmelte die Staatsanwältin, die den Blick nicht von der Leiche wenden konnte.
    Anaïs war ihr dankbar für den dümmlichen Satz, der die Situation haargenau wiedergab. Sie war sicher, dass Véronique dasselbe empfand wie sie selbst – Entsetzen und Erregung gleichzeitig. Genau das hatten sie immer erhofft, aber auch gefürchtet: die Ermittlung in einem einzigartigen Mordfall mit einem wahnsinnigen Mörder. Alle jungen Frauen ihres Alters in diesem Metier träumten davon, wie Clarice Starling in Das Schweigen der Lämmer zu werden.
    »Kannst du schon etwas über die Todesursache sagen?«, fragte Anaïs den Gerichtsmediziner.
    Longo machte eine unbestimmte Geste.
    »Er hat keine offenkundigen Verletzungen. Vielleicht wurde er mit dem Stierkopf erstickt. Oder erwürgt. Oder vergiftet. Wir müssen die Autopsie abwarten. Auch eine Überdosis kann ich nicht ganz ausschließen.«
    »Wieso?«
    Der Mediziner bückte sich und griff nach dem linken Arm des Opfers. Die Venen in der Armbeuge waren hart wie Holz und mit Narben, Verhärtungen und bläulichen Hämatomen übersät.
    »Abhängig bis zum Anschlag. Der Junge war insgesamt in einem ziemlich schlechten Zustand – zu seinen Lebzeiten, meine ich. Verdreckt und unterernährt. An seinem Körper finden sich schlecht verheilte Wunden. Ich schätze, wir haben es hier mit einem Junkie von etwa zwanzig Jahren zu tun. Möglicherweise obdachlos. Vielleicht ein Aussteiger. Irgendetwas in dieser Art.«
    Anaïs blickte den Polizisten an, der neben der Staatsanwältin stand.
    »Wurden seine Kleider gefunden?«
    »Weder Kleidung noch Ausweispapiere.«
    Der Mann war also irgendwo anders getötet und dann hergebracht worden. War die Grube als Versteck gedacht, oder sollte die Leiche im Gegenteil zur Schau gestellt werden? Vermutlich war die zweite Vermutung die richtige. Die Grube schien bei dem Ritual des Mörders eine Rolle zu spielen.
    Anaïs kletterte die Leiter hoch und warf einen letzten Blick auf die Leiche. Bedeckt mit Nebeltröpfchen wirkte sie wie eine Stahlskulptur. Die nach Öl und Metall riechende Grube bildete eine geradezu perfekte Grabstätte für dieses abstruse Mischwesen.
    Oben angekommen streifte Anaïs die Überschuhe und die Papierhaube ab. Véronique Roy erging sich in offiziellen Floskeln.
    »Hiermit beauftrage ich dich offiziell mit …«
    »Schick mir den Papierkram ins Büro.«
    Verärgert erkundigte sich die Staatsanwältin nach den Spuren, denen Anaïs nachgehen wolle. Anaïs zählte fast automatisch die Routineaufgaben auf. Gleichzeitig versuchte sie sich über das Profil des Mörders klar zu werden. Er kannte die Örtlichkeiten. Vermutlich auch die Rangierzeiten. Vielleicht war es ein Bahnbeamter. Oder jemand, der seine Tat sehr sorgfältig

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