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Der Ursprung des Bösen

Der Ursprung des Bösen

Titel: Der Ursprung des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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veranlassen, dass die Verschreibungen und Verkäufe des Mittels während der letzten Wochen in der gesamten Region überprüft wurden. Außerdem musste man feststellen, ob es Einbrüche in Tierkliniken gegeben hatte.
    Was die technische Durchführung der Enthauptung betraf, so hatten sie es laut Hanosch mit einem echten Profi zu tun, der entweder Chirurg oder Metzger sein musste. Er hatte zunächst die Haut und das weiche Gewebe durchtrennt und dann die Klinge zwischen Hinterhauptbein und erstem Halswirbel eingeführt, um die Bänder durchzuschneiden. Diese professionelle Vorgehensweise erlaubte es dem Mörder, den Kopf problemlos mit einem einfachen Skalpell abzunehmen. Aus unerfindlichen Gründen war dem Tier auch die Zunge herausgeschnitten worden. Möglicherweise hatte der Täter sie aus Gründen der Optik entfernt. Er wollte wohl nicht, dass seinem Minotaurus die Zunge aus dem Hals hing wie einem durstigen Ochsen.
    Nach und nach wurden Anaïs einige Dinge klar. Der Mörder war mit Sicherheit weder ein Tippelbruder noch ein einfacher Dealer und ganz bestimmt nicht der Mann ohne Gedächtnis vom Bahnhof Saint-Jean. Bei dem Täter musste es sich um einen gefühlskalten, rational denkenden Geisteskranken handeln. Um einen Mörder mit Nerven wie Stahlseile, der sich sorgfältig auf sein Verbrechen vorbereitet hatte. Anaïs vermutete, dass er weder Metzger noch Züchter oder Tierarzt war, sondern sich das Fachwissen nur für eine perfekte Inszenierung angeeignet hatte.
    Sie zitterte vor der Konfrontation mit diesem Gegner – ob aus Angst oder Erregung hätte sie nicht sagen können. Wahrscheinlich beides. Natürlich hatte sie nicht vergessen, dass psychopathische Mörder in den meisten Fällen gefasst werden, weil sie einen Fehler begehen oder der Zufall der Polizei zu Hilfe kommt. Bei diesem Täter jedoch konnte sie nicht wirklich darauf hoffen, dass ihm ein Schnitzer unterlief. Und was den Zufall anging …
    Anaïs bedankte sich bei dem Anrufer und bat um seinen schriftlichen Bericht. Dann schlief sie einige Stunden, von Träumen heimgesucht, in denen sie in Tierblut badete.
    Am nächsten Tag brach sie gegen 8.00 Uhr auf und fuhr in Richtung Mont-de-Marsan.
    Seit dem frühen Morgen regnete es. Nur sehr langsam wurde es hell. Die Landschaft, die sie durchquerte, wandelte sich ununterbrochen: Tannenschonungen, Eichenwälder, Weideland, Weinberge. Nichts davon war geeignet, ihre Laune zu verbessern. Zu allem Überfluss war sie auch noch mit einer Mordserkältung aufgewacht. Ihr Kopf schien in einem viel zu engen Helm zu stecken, ihr Hals kratzte, und ihre Nase war verstopft. Aber so etwas passierte eben, wenn man sich nachts heulend auf einem Weinberg am Boden wälzte.
    Sie hatte sich gegen die Autobahn entschieden und die Landstraße D 651 gewählt, die direkt nach Süden führte. Auf diese Weise blieb ihr Zeit zum Nachdenken. Die monotone Bewegung der Scheibenwischer ermöglichte ihr freie Sicht auf die verregnete Straße. Irgendwann fiel ihr ein, dass der Mörder mit seiner Trophäe wahrscheinlich den gleichen Weg in entgegengesetzter Richtung zurückgelegt hatte.
    Anaïs fuhr an Mont-de-Marsan vorbei in Richtung Villeneuve-de-Marsan. An einer Apotheke hielt sie an und kaufte Aspirin, Paracetamol und Schnupfentropfen. In einem Lebensmittelladen erstand sie eine Flasche Cola Zero.
    Als die Tabletten wirkten, fuhr sie weiter. Am Ortsausgang entdeckte sie rechts ein Schild mit der Aufschrift GANADERÍA DE GEDA und schlug den durchweichten Feldweg ein. Nirgends waren Stiere zu sehen, doch das verwunderte Anaïs nicht weiter. Eines der Prinzipien bei der Zucht von toros bravos ist es, vor dem Kampf in der Arena jeden Kontakt mit Menschen zu vermeiden. Dadurch werden die Stiere nicht nur wilder und aggressiver, sondern angesichts des Matadors auch besonders hilflos.
    Eigentlich hätte sie die Gendarmerie von ihrem Besuch in Kenntnis setzen müssen. Einerseits, um Empfindlichkeiten vorzubeugen, und andererseits, um im Vorfeld die Akte zu studieren. Aber sie wollte ihre Befragung unbedingt allein, ohne Vorgaben und vor allem ganz diskret führen. Für Diplomatie war auch später noch Zeit.
    Sie fuhr durch eine Allee. Die Bäume reckten ihre kahlen Zweige in den Himmel. Ganz am Ende stand rechts ein Fachwerkhaus, vor dem sie ihren Golf parkte. Das Anwesen war typisch für diese Gegend – ein großer, von Eichen umgebener Hof aus gestampfter Erde vor dem Fachwerkhaus des Besitzers; Ställe und Anbauten waren weiß verputzt.

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