Der Ursprung des Bösen
Nachttiers. Plötzlich schien er wieder klar zu sehen. Eigentlich hatte Freire eine weitere Hypnosesitzung vorgesehen, in der er den Mann ohne Gedächtnis vorsichtig zu seinen Ursprüngen zurückführen wollte. Nun aber erkannte er, dass der Mechanismus der Erinnerung ganz von selbst wieder eingeklinkt war. Patrick Bonfils war dabei, wieder er selbst zu werden. Mathias konnte nur noch versuchen, den Vorgang zu beschleunigen.
»Ich bringe dich nach Hause, Patrick.«
»Wann?«
»Heute Nachmittag.«
Der Cowboy nickte langsam, ließ die Tonmaske sinken und betrachtete sein unvollendetes Werk. Es war so weit, und es gab keinen Ausweg mehr. Vom psychiatrischen Standpunkt aus gesehen setzte Freire seine gesamten Hoffnungen auf die Rückkehr Bonfils’ ins Baskenland. Hier würde der Patient, unterstützt von seiner Lebensgefährtin und seiner Umgebung, wieder zu seinem wahren Ich zurückfinden.
Allerdings beunruhigte ihn etwas ganz anderes. Sobald ein Mensch mit Amnesie sein Gedächtnis wiederfindet, vergisst er häufig die von ihm erfundene Persönlichkeit. Und Freire befürchtete, dass Patrick in dem Maß, wie er seine Erinnerung zurückgewann, die Ereignisse verdrängen würde, deren Zeuge er am Bahnhof geworden war. Aber von Pascal Mischell konnte Freire jetzt beim besten Willen nicht mehr anfangen.
Also stand er auf und legte Bonfils freundschaftlich die Hand auf die Schulter.
»Ruh dich aus. Nach dem Mittagessen hole ich dich ab.«
Der Mann mit dem Stetson nickte. Es war unmöglich, festzustellen, ob er sich freute oder nicht.
Im Laufschritt kehrte Freire in sein Büro zurück. Verschlossene Türen. Schlüssel. Tische und Betten, die am Boden festgeschraubt waren. Immer wieder überwältigte ihn das Gefühl, ein Gefängniswärter für Seelen zu sein.
Er bat seine Sekretärin, ihm die Tageszeitungen zu besorgen, und rief dann Sylvie an, um Patricks Rückkehr für den Nachmittag anzukündigen. Die Frau wirkte verblüfft.
»Für Patrick ist der Kontakt mit Ihnen das beste Mittel, wieder ganz er selbst zu werden«, erklärte er und verabredete sich gegen 15.00 Uhr mit ihr am Hafen von Guéthary.
Genau genommen befand er sich im Blindflug. Noch nie hatte er eine vergleichbare Situation erlebt. Beinahe hätte er der Versuchung nachgegeben, Hauptkommissarin Chatelet anzurufen und ihr die Neuigkeit mitzuteilen, doch dann fiel ihm ein, dass die Dinge zwischen ihnen nicht zum Besten standen. Immerhin hatte er den Techniker von der Spurensicherung angelogen. Ob so etwas wohl strafbar war?
Außerdem gab es noch ein weiteres Problem. Anaïs würde im Lauf des Tages die Ergebnisse erhalten, die er bereits in der letzten Nacht bekommen hatte. Die Planktonspuren auf den Händen des Cowboys und in der Reparaturgrube machten Patrick erst recht verdächtig. Mit anderen Worten: Seinem Patienten drohte die Festnahme. Da war es doch wirklich besser, wenn er Bonfils so schnell wie möglich nach Hause verfrachtete. Im schlimmsten Fall würde man ihn irgendwann wieder aus Guéthary abholen müssen, aber in der Zwischenzeit hatte Patrick ein oder zwei Tage Zeit, sich wieder mit seiner eigenen Persönlichkeit anzufreunden.
Die Sekretärin brachte einen ganzen Stapel Zeitungen in Freires Büro. Mathias überflog die Titelseiten. In der Hauptsache widmeten sich die Schlagzeilen dem Nebel, der am Wochenende über der Stadt gelegen hatte. Die Liste der Unfälle zog sich über halbe Seiten hin.
In einer kleinen Randnotiz wurde ein Obdachloser erwähnt, der am Bahnhof Saint-Jean erfroren war. Freire gefiel die Untertreibung. Wie mochte es der Polizei gelungen sein, ein spektakuläres Verbrechen auf diese Weise unter den Teppich zu kehren? Vermutlich wollte man Zeit für weitere diskrete Ermittlungen gewinnen.
Bonfils wurde lediglich im Lokalteil der Zeitungen erwähnt. Hier war die Rede von einem geistig verwirrten Mann, der in der Nacht vom 12. auf den 13. Februar am Bahnhof entdeckt und sofort in die psychiatrische Klinik eingewiesen worden war.
Zufrieden faltete Freire die Zeitungen zusammen. Mit etwas Glück würden die Medien ihn in Ruhe lassen. Er blickte auf seine Uhr. Zehn. Mathias griff zur obersten Akte des Stapels der Neuzugänge. Ihm blieb der gesamte Vormittag, um sich um die neuen Fälle zu kümmern, die Visite in seiner Station abzuhalten und die ambulanten Patienten zu behandeln. Anschließend würde er mit Patrick Bonfils ins Baskenland aufbrechen.
D ie ganze Nacht hindurch träumte Anaïs von Schlachthöfen.
Von
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