Der Ursprung des Bösen
darauf achten, keinesfalls die Lunge zu treffen. Das Publikum mag es nicht, wenn der Stier Blut spuckt.«
»Kein Wunder. Und der Degen? Ist das dann der Gnadenstoß?«
»Sie nerven! Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?«
»Der Typ, der den Stier auf dem Gewissen hat, könnte ein Matador gewesen sein.«
»Eher ein Metzger.«
»Ist das nicht das Gleiche?«
Der mayoral wandte sich wortlos zur Tür. Das Gespräch war beendet. Wieder einmal hatte Anaïs ein Verhör in den Sand gesetzt. An der Schwelle holte sie ihn ein. Der Regen hatte aufgehört. Zaghafte Sonnenstrahlen sickerten in den Hof und flirrten in den Pfützen.
Vielleicht hätte sich die Scharte noch auswetzen lassen, doch Anaïs konnte sich die nächste Frage einfach nicht verkneifen:
»Stimmt es, dass toros bravos am Kontakt mit weiblichen Tieren gehindert werden? Werden sie aggressiver, wenn sie geil sind?«
Bernard Rampal drehte sich zu ihr um und fauchte:
»Der Stierkampf ist eine Kunst. Und wie jede andere Kunst ist er Regeln unterworfen. Jahrhundertealten Regeln.«
»Ich habe gehört, dass sie einander auf den Weiden besteigen. Aber das interessiert die Arschlöcher in der Arena nicht, oder?«
»Verschwinden Sie, und zwar ein bisschen plötzlich.«
S cheiße. Scheiße. Scheiße.
Anaïs saß am Steuer ihres Autos und ging hart mit sich selbst ins Gericht. Nachdem sie bereits am Vortag die Befragung des Golf spielenden Arztes vermasselt hatte, machte sie nun den gleichen Fehler mit dem Stierzüchter. Sie war nicht in der Lage, ihre Aggressionen zu zügeln. Ihre kindischen Angriffe und dummen Provokationen verdarben alles. Sie hatte ein Verbrechen aufzuklären; trotzdem spielte sie die rebellische Punkerin.
Das Blut pochte in ihrem Kopf. Ihr Gesicht war von kaltem Schweiß bedeckt. Wenn einer der beiden Verhörten sich an das Gericht wendete, war sie weg vom Fenster. Man würde diesen Mordfall einem erfahrenen, weniger impulsiven Kollegen übergeben.
In Villeneuve-de-Marsan hielt sie an, schnäuzte sich, nahm Nasentropfen und sprühte sich Mundwasser in den Rachen. Immer noch scheute sie sich, die Gendarmen aufzusuchen. Zu diplomatischen Verrenkungen fühlte sie sich im Augenblick nicht in der Lage. Sie würde Le Coz damit beauftragen. Als Außenminister taugte er eindeutig am besten.
Sie legte den ersten Gang ein und legte einen Kavalierstart hin. Für den Rückweg entschied sie sich gegen die Landstraße, sondern nahm die Autobahn Richtung Bordeaux.
Ihr Handy klingelte. Obwohl sie hundertachtzig Sachen fuhr, nahm sie das Gespräch an.
»Le Coz hier. Ich habe die ganze Nacht im Internet herumgesucht und war heute Morgen bei den Behörden.«
»Und was hast du herausgekriegt?«
»Philippe Duruy wurde 1988 in Caen geboren. Die Eltern sind unbekannt.«
»Was? Auch die Mutter?«
»Ja. Eine anonyme Geburt. Um die Papiere einsehen zu können, müssten wir den Rechtsweg beschreiten und …«
»Weiter.«
»Er kam ins Waisenhaus und lebte in verschiedenen Pflegefamilien, hat sich aber offenbar mehr oder weniger ordentlich aufgeführt. Mit fünfzehn kam er nach Lille und begann eine Ausbildung als Fachkraft für Systemgastronomie. Das sind Leute, die in Kantinen arbeiten. Aber nach ein paar Monaten hat er abgebrochen und ist Punker geworden. Besorgte sich Springerstiefel, einen Hund und zog los. Erst zwei Jahre später fand sich seine Spur auf den Festival von Aurillac wieder.«
»Was für ein Festival ist das?«
»Hauptsächlich Straßentheater. Er wurde wegen Drogenbesitz verhaftet, aber gleich wieder freigelassen, weil er noch nicht volljährig war.«
»Welche Drogen?«
»Amphetamine, Ecstasy und LSD. Er wurde noch zwei weitere Male verhaftet, und zwar immer bei einem Rockkonzert oder einem Rave. In Cambrai im April 2008 und 2009 in Millau.«
»Immer wegen Drogenbesitz?«
»Nein, weil er sich geprügelt hat. Unser Freund machte wohl ganz gern mal Randale und hat sich mit den Rausschmeißern angelegt.«
Anaïs dachte an den schmächtigen Körper des Opfers, der nur aus Haut und Knochen bestand. Entweder kannte der Junge keine Hemmungen, oder er war jedes Mal bis zum Anschlag zugedröhnt. Eines war jedenfalls sicher: Niemand hätte ihm gegen seinen Willen etwas injizieren können. Sein Mörder musste ihm also freundschaftlich begegnet sein.
»Und in der letzten Zeit?«
»Das letzte Mal aktenkundig wurde er im Januar dieses Jahres.«
»In Bordeaux?«
»Nein, in Paris. Wieder bei einem Konzert, und zwar am 24. Januar 2010 im
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