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Der Ursprung des Bösen

Der Ursprung des Bösen

Titel: Der Ursprung des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Alles wirkte gleichzeitig edel und sehr melancholisch. Hier waren Jahrzehnte, ja sogar Jahrhunderte vergangen, ohne dass Fortschritt und moderner Komfort ihre Spuren hinterlassen hatten. Mit einer Mischung aus Grausamkeit und Mitleid stellte sich Anaïs vor, dass die Innenräume des Hauses ohne Strom und fließendes Wasser waren.
    Sie stieg aus dem Auto, setzte die Kapuze auf und ging um die Pfützen herum auf das Haupthaus zu. Ein unsichtbarer Hund begann zu bellen. Jauchegeruch hing in der Luft. Anaïs klopfte an der Tür, doch niemand öffnete.
    Sie blickte sich genauer um. Zwischen zwei Gebäuden entdeckte sie eine arena de tienda . Hier wurden nicht etwa die Stiere ausgewählt – sie kämpften nie vor ihrem großen Tag –, sondern deren Mütter. Man reizte sie, indem man sie mit Lanzen stach. Die Kühe, die am nervösesten reagierten, galten als beste Ziehmütter für toros bravos , als ob es ein Gen für Aggressivität gäbe.
    »Sind Sie die Kommissarin, die gestern Abend angerufen hat?«
    Anaïs wandte sich um und stand einem dürren Männlein gegenüber, das in einen petrolblauen Anorak gehüllt war. Der Kerl war ein echtes Fliegengewicht, bei geschätzten ein Meter siebzig brachte er höchstens fünfzig Kilo auf die Waage und sah aus, als würde er beim leisesten Windstoß davonfliegen. Sie zückte ihre Polizeimarke.
    »Kriminalhauptkommissarin Anaïs Chatelet von der Kripo Bordeaux.«
    »Bernard Rampal«, stellte sich der Hänfling ohne große Begeisterung vor. »Ich bin hier der mayoral . Der Züchter und conocedor .«
    »Das heißt doch Kenner, oder?«
    »Richtig. Ich kenne die Genealogie der Tiere und die Chronologie ihrer Kämpfe. Zucht hat viel mit einem guten Gedächtnis zu tun.« Er tippte mit dem Finger an seine Schläfe. »Alles ist da drin.«
    Der Regen fiel auf sein Silberhaar, ohne es zu durchdringen. Wie das Gefieder eines Schwans, dachte Anaïs. Der Kerl sah wirklich merkwürdig aus. Er hatte die Schultern eines Jockeys und ein Kindergesicht, das wie gegerbt wirkte und von Falten durchzogen war. Auch seine hohe, recht dünne Stimme klang komisch. Eigentlich hatte sie sich den Züchter von Kampfstieren, die eine halbe Tonne wogen, ganz anders vorgestellt. Die Männlichkeit dieses schmalen Handtuchs musste irgendwo anders liegen. Vermutlich in der grundlegenden Kenntnis seines Metiers. Oder in seiner autoritären Art, die durch keinerlei moralische oder gefühlsmäßige Skrupel beeinträchtigt wurde.
    »Sie suchen also nach dem Arschloch, das meinen Stier auf dem Gewissen hat?«
    »Er hat vor allem auch einen Menschen auf dem Gewissen.«
    »Menschen bringen sich seit Ewigkeiten gegenseitig um. Aber dieser Schweinehund hat sich an einem hilflosen Tier vergriffen. Das ist neu.«
    »Wieso? Sie tun das doch ebenfalls, und zwar das ganze Jahr über, oder?«
    Der conocedor runzelte die Augenbrauen.
    »Sie sind hoffentlich keine Stierkampfgegnerin?«
    »Ich gehe von Kindesbeinen an zu corridas .«
    Anaïs erwähnte nicht, dass es sie jedes Mal krank gemacht hatte. Das Gesicht des mayoral wurde etwas freundlicher.
    »Wem gehört diese ganadería ?«
    »Einem Geschäftsmann aus Bordeaux, der sich für den Stierkampf begeistert.«
    »Weiß er, was passiert ist?«
    »Natürlich.«
    »Und wie hat er reagiert?«
    »Wie alle anderen auch: voller Abscheu.«
    Anaïs notierte Name und Adresse des Besitzers. Man würde ihn verhören müssen, ebenso wie das gesamte Personal der ganadería . Niemand konnte ausschließen, dass der Täter in diesem Betrieb arbeitete.
    »Kommen Sie«, forderte das Männlein sie auf. »Der Kadaver liegt in der Scheune. Wir haben ihn für die Versicherung aufbewahrt.«
    Anaïs fragte sich, was der Züchter als Antragsbegründung nennen würde. Materialschaden vielleicht? Sie betraten eine Scheune, in der Heu aufbewahrt wurde. Drinnen war es lausig kalt. Der Duft des Viehfutters wurde von einem starken Verwesungsgeruch überlagert.
    Der Kadaver lag unter einer Plane mitten im Raum.
    Ohne zu zögern zog Bernard Rampal die Plane beiseite. Eine ganze Wolke von Fliegen stob empor. Der Gestank verstärkte sich. Und da lag der riesige schwarze Körper. Gigantisch und bereits aufgebläht von Verwesungsgasen. Die Albträume der vergangenen Nacht kehrten zurück. Männer ohne Gesichter, die sich in einem Massengrab zu schaffen machten, Karkassen an Fleischerhaken, gehäutete Kälber …
    »Der Mann von der Versicherung kommt heute. Danach begraben wir den Kadaver.«
    Anaïs presste die Hand auf

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