Der Utofant
besorgen. Die Antragslaufzeit hat sich in letzter Zeit auf sieben Monate durchschnittlich erhöht. In unserer Stadt (250.000) wurden elf neue Ämter eingerichtet, u. a. die Verteilungsstelle für Zeitwertprüfer, die jetzt schon Säuglingen sofort nach der Geburt hinters Ohr geheftet werden sollen.
Wir kommen nicht mehr dazu, in Ruhe etwas zu essen, geschweige es zu genießen, schreibt Frau L. Mutter von drei Kindern. Dauernd sitzen wir und füllen Anträge auf Rückerstattung von Zeit aus oder mahnen die Bearbeitung bei den Rückerstattungsstellen an. Wir sprechen nicht mehr miteinander, weil wir ununterbrochen denken müssen: Produziere ich jetzt Leerlauf? Ist er unverschuldet? Wie können wir das nutzen? Habe ich noch genug Antragsformulare? Das sind die einzigen Fragen, die am Familientisch überhaupt noch besprochen werden.
Auf meine Frage, wie der Zeitrückforderer die Zeit konkret zu sich nehme, wurde mir von der Telefonia-Bell-Geschäftsstelle geantwortet, jedes Kind wisse, daß sie ihm über den hinter dem Ohr tragbaren individuellen Zeitspeicher zufließe, der so lange rotiere, bis die rückerstattete Zeit aufgenommen sei. Auf meine Bedenken, ob es nicht gesundheitsschädlich sei, dauernd Zeit übertragen zu kriegen, ob da nicht eine Überstopfung verbunden mit Völlegefühl, Rülpsen eintreten könnte, vielleicht auch Schwerhörigkeit, erklärte man mir, dies geschähe nur, wenn ich die Zeit nicht sofort wieder in Umlauf setze. Sie gaben mir eine Packung ZeitKreislauftabletten, die ich alle drei Stunden, auch nachts, schlucken müsse. Allein die Auflösung der Tabletten nimmt einen großen Teil der zurückerhaltenen Zeit in Anspruch, so daß ich über körperliche Beschwerden oder sonstiges Unbehagen bisher nicht klagen konnte.
Wo befindet sich Frau Telefonia Bell? (Zeitungsnotiz)
Die Erfinderin des Time-Repaymentsystems ist seit voriger Woche unauffindbar. Der Andrang zu ihren Repaymentboxen war in letzter Zeit so stark, daß nicht alle Kunden befriedigt werden konnten. Mehrere Boxen wurden von Wartenden beschädigt. Auf dem Arbeitstisch der Erfinderin soll ein Brief gefunden worden sein, dessen Inhalt die Polizei noch nicht bekanntgeben will. Könnte Selbstmord vorliegen? Telefonia Bell wurde zunehmend als Betrügerin verdächtigt. Auch soll das Gerücht umgehen, es sei mit Hilfe winzigster Elemente, die man ausschwärmen lassen kann, sobald Zeit leer zu laufen droht, inzwischen möglich, Zeit einfach anzuhalten, bis wieder etwas Relevantes geschieht. Damit wäre Telefonia Beils Erfindung überholt.
Verschollen?
Weitere Dokumente über die Erfindung, die als verschollen gilt, wurden bis heute nicht entdeckt. Ob man eines Tages den letzten Brief der Telefonia finden wird, in dem es vielleicht heißt: Ichhabe nie geleugnet, daß alles nur ein Test war, bleibt fraglich. Immerhin soll neulich in einem verfallenen Postgebäude etwas Kastenförmiges gefunden worden sein, das an eine Time-Repaymentbox erinnern könnte. Es sei innen hohl gewesen.
Gravitium
1
Später sagte man mir, ich soll gerufen haben, macht weiter, Freunde, laßt mich hier liegen. Aber an das Gefühl des Erwachens erinnere ich mich. Ich fühlte, daß ich am Boden dieser anderen Welt festgeheftet war wie ein Stück Eisen, das an einem Magneten klebt, und daß mich die schweren fleischigen Blätter des Fumastrauches bedeckten. Wie ich mich kenne, hätte ich mich sofort wieder aufgerappelt, hätte mich vom Boden zu lösen versucht, aber eine Hand legte sich auf meine Brust. Sie knöpfte mir das Hemd auf und fuhr in langsamen, beruhigenden Strichen über mein Herz. Ich empfand es als wohltuend, und mir war, als begänne hier ein neues Leben für mich, etwas Besonderes, was mir noch nie begegnet war. Meine Anstrengung aufzustehen, ließ sofort nach, ich war entschlossen, mich diesem neuen Gefühl hinzugeben. Kann aber auch sein, daß ich einfach schlapp war.
Die Hand hätte ich allenfalls noch beiseite schieben können, doch nun sah die Frau mich an. Ihr Blick war besorgt und liebevoll, ich sah ihr lange in die dunkelbraunen Augen im vollen, ebenmäßigen Gesicht der Gravitiden. Deren Gesichter hatte ich nie unterscheiden können, vielleicht weil ich sie nicht gründlich genug beobachtete. Nun schauten wir uns gegenseitig an. Die Fumablätter bewegten sich schwer, ich roch ihren süßen Vanilleduft, der über dem Boden lastete. Als sie ihre Hand von meiner Brust lösen wollte, drückte ich sie fest drauf, und sie ließ sie
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