Der verborgene Charme der Schildkröte
Wirtin fragte, ob er die Treppe herabgefallen sei.
Erschrocken und begeistert zugleich von diesem Überraschungsbesuch, trat der Geistliche beiseite, um sie einzulassen. Er wies ihr den Weg zur Küche, weil er nicht wollte, dass sie sein tristes Junggesellenwohnzimmer sah, zumal auf dem Sessel noch die Biografie des Rattenfängers von Königin Viktoria lag. Als er ihr aber einen Platz an dem abgewetzten Tisch anbot, fragte er sich, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Dort auf dem Küchentresen stand die jämmerliche Teekanne für eine Person und direkt daneben eine vereinzelte Tasse. Im Gemüsekorb lag eine einsame Möhre, und auf dem Fensterbrett stand die zerfledderte Ausgabe von Kochen für Singles . Um sein Unbehagen zu verbergen, beschäftigte er sich damit, Wasser in den Kessel zu füllen, und als er sich dann wieder umdrehte, hielt er zwei Tassen in der Hand.
»Tee oder Kaffee?«, fragte er.
»Kaffee, bitte«, antwortete sie, nahm den selbstgestrickten lavendelfarbenen Schal ab und legte ihn auf den Tisch.
Sobald sie einander gegenübersaßen, verbarg Ruby Dore ihr Gesicht in den Händen und murmelte durch die Finger hindurch: »Ich muss etwas beichten.«
Der Kaplan wollte ihr gerade erklären, dass er keine Beichte abnehme und sie mit den Katholiken ein Stück die Straße hinunter besser bedient sei, aber die Wirtin redete einfach weiter. Sie sei fest entschlossen gewesen, den Kuchen, den er in der Schenke vergessen habe, zurückzubringen, doch als sie den Deckel geöffnet und den Duft gerochen habe, habe sie nicht widerstehen können und ein Stück probiert. Dann habe sie noch ein zweites probiert, um sicherzugehen, dass der Kuchen wirklich so gut schmeckte, wie es ihr vorgekommen war. Schließlich habe sie gedacht, dass man einen angebrochenen Kuchen schlecht zurückbringen könne, und habe ihn schnell aufgegessen. »Ursprünglich wollte ich alles auf den Kanarienvogel schieben, aber das hätten Sie mir vermutlich nicht abgekauft«, bekannte sie.
Rev. Septimus Drew wischte die Entschuldigung mit einer Handbewegung beiseite und erklärte, dass er es als Kompliment an seine Mutter auffasse, wenn sie dem Kuchen nicht habe widerstehen können, denn es sei ihr Rezept gewesen. Die Wirtin bat ihn um eine Kopie, und er schrieb es mit der flammenden Handschrift eines Liebeskranken nieder. Als sie dann ihren Kaffee tranken, erzählte ihm Ruby Dore von ihrem neuesten Erwerb für die Tower-Devotionalien-Sammlung im Pub: einem Rougedöschen, das angeblich von Lord Nithsdale benutzt worden war, als er 1716 als Frau verkleidet aus dem Tower geflohen war. Der Geistliche erwiderte, dass ihm von allen Fluchten die des bärtigen Jakobiten die liebste sei und dass er hoffe, eines Tages das Traquair House an der schottischen Grenze besichtigen zu können, wo die bei der Flucht getragenen Frauenkleider ausgestellt seien.
Als die Wirtin sich erhob, um zu gehen, spürte Rev. Septimus Drew plötzlich den Stachel der Einsamkeit. »Könnten Sie sich vorstellen, heute Morgen mit mir ins Westminster-Abbey-Museum zu gehen?«, fragte er unvermittelt und zu seiner eigenen Überraschung. »Unter den Exponaten befindet sich auch der angeblich älteste ausgestopfte Papagei der Welt.«
Sobald Ruby Dore gegangen war, um jemanden zu suchen, der ihren Platz hinter der Bar einnehmen konnte, lief der Kaplan nach oben. Er zog seine Soutane aus, kämmte sein Haar straff nach hinten und kehrte an seinen Platz am Küchentisch zurück, inständig hoffend, dass sie Erfolg haben möge. Es dauerte nicht lange, und sie war schon wieder da, weil sie eine Beefeater-Frau mit einer Flasche Wein hatte bestechen können.
Sie schoben sich durch die Touristenmassen im Tower hindurch und waren überwältigt von der Schlange am Eingang. Als sie einander in der U-Bahn gegenübersaßen, sprachen sie über den grandiosen Erfolg der Königlichen Menagerie, mit dem niemand gerechnet hatte. Der Kaplan erzählte, dass ihm besonders die Jesus-Echsen gefielen, und just als er fertig war, merkte er, dass er keine Socken angezogen hatte.
Als sie an der Westminster Abbey ankamen, fragte Ruby Dore, ob es ihm etwas ausmache, einen Blick auf das Grabmal von Isaac Newton zu werfen. Er sei schließlich achtundzwanzig Jahre lang Leiter der Münzprägeanstalt im Tower, der Royal Mint, gewesen. Nebeneinander standen sie vor dem Sarkophag mit dem Relief mit den nackten Knaben, die Goldbarren und Münzbehälter hochhielten und einen Brennofen anfeuerten. Sehr zu
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