Der verborgene Charme der Schildkröte
Ruby Dores Vergnügen führte der Kaplan sie nun in die Dichterecke und zeigte ihr das aus grauem Purbeck-Marmor errichtete Grabmal von Geoffrey Chaucer, der von 1389 bis 1391 als Bauleiter im Tower gearbeitet hatte.
Nach einem Zwischenhalt an Englands ältester Tür, die vermutlich in den 1050er Jahren geschaffen worden war, führte Rev. Septimus Drew sie schließlich zu dem Museum im Kellergewölbe von St. Peter, das aus dem elften Jahrhundert stammte. Staunend betrachtete Ruby Dore die Sammlung lebensgroßer Effigien, nachgebildete Leiber von Königen, Königinnen und bedeutenden Persönlichkeiten, die fast alle ihre eigene Kleidung trugen und mit Ausnahme von Lord Nelson auch in der Abtei begraben waren.
Der Geistliche erklärte, dass man die Körper toter Herrscher einst einbalsamiert und bei Prozessionen und heiligen Messen zur Schau gestellt hatte. Später hatte man stattdessen Puppen benutzt, weil es zu lange dauerte, die Leichen für die Zeremonien zu präparieren. Nach 1660 war dann bei den Beerdigungsprozessionen statt der Puppen eine goldene Krone auf einem Purpurkissen mitgeführt worden, wobei die Puppen allerdings weiterhin dazu dienten, die jeweilige Grabstelle zu markieren.
Er zeigte ihr die Vitrine mit der ältesten von ihnen: Eduard III., der aus einem ausgehölten Stück Walnussholz nachgebildet worden war. Ein Forensiker der Metropolitan Police hatte die Kuriosität aus dem vierzehnten Jahrhundert untersucht. »Die wenigen verbliebenen Augenbrauenhaare stammen offenbar von einem Hund«, fügte Rev. Septimus Drew hinzu.
Als sie zu Heinrich VII. weitergingen, wies der Geistliche auf das Gesicht mit dem schiefen Mund, den eingefallenen Wangen und dem angespannten Kiefer hin und erklärte, dass es seiner Totenmaske nachgebildet worden sei.
Ruby Dore begab sich nun zu Nelson, den man 1806 gekauft hatte, um die Besucher, die sich in der St. Paul’s Cathedral sein Grab angeschaut hatten, in die kostenpflichtige Westminster Abbey zurückzulocken. Rev. Septimus Drew gesellte sich zu ihr und sagte: »Statt seines rechten Auges scheint allerdings sein linkes blind zu sein.«
Schließlich betrachteten die beiden die Herzogin von Richmond und Lennox, welche die Gewänder trug, die sie bei der Krönung von Königin Anna im Jahre 1702 angehabt hatte. Sofort bückte sich Ruby Dore, um sich den legendären ausgestopften Papagei anzuschauen, der auf einem Sockel neben der Puppe hockte und jahrhundertelang kurzsichtige Präparatoren aus aller Welt angelockt und ehrfürchtig vor dem heiligen Exemplar hatte niederknien lassen.
Während sie den Vogel bewunderte, erzählte ihr Rev. Septimus Drew, dessen faszinierende Einblicke in die Sammlung ihm bereits etliche Mithörer beschert hatten, die Geschichte vom Papagei und der Herzogin. Als die junge Frances Stuart zur Hofdame der Gattin Karls II. ernannt worden war, hatte sich der König wegen ihrer überwältigenden Schönheit sofort in sie verliebt. Er war allerdings nicht der Einzige, der auf die Reize des Mädchens, das später sogar als Symbol Britanniens auf Münzen geprägt werden sollte, aufmerksam geworden war. Im Bemühen, sie zu verführen, hatte ihr ein verliebter Höfling einen jungen Papagei geschenkt, den er von einem auf hoher See vom Kurs abgekommenen portugiesischen Kaufmann erworben hatte. Der Vogel kannte nichts als portugiesische Schimpfwörter, und Frances Stuart widmete dem Versuch, ihm wenigstens ein paar simple englische Galanterien zu entlocken, so viel Zeit, dass der König ihn vor Eifersucht töten wollte. Der kluge Vogel pickte aber die vergifteten Nüsse aus seiner Schale heraus, entdeckte sofort die Füße der mit Netzen bewehrten Diener hinter den Vorhängen und spürte es, wenn sich seiner Kehle eine Hand näherte, die ihn nicht streicheln, sondern erwürgen wollte.
Frances Stuart nahm schließlich Reißaus und heiratete den Herzog von Richmond und Lennox. Als sie aber an den Hof zurückkehrte, war der König noch genauso verzaubert, und seine Eifersucht auf den vulgären Vogel stand der Verehrung für seine Herrin in nichts nach. In dunklen Momenten schwor er, dass der Papagei sein übelster Rivale sei. Als die Herzogin 1702 verstarb, trauerte das Tier in fließendem Englisch und war sechs Tage später ebenfalls tot. Es wurde ausgestopft und aus Achtung vor der vierzigjährigen Freundschaft zusammen mit der Puppe ausgestellt. Der König war längst in der Westminster Abbey begraben und konnte den Anweisungen der Herzogin nicht
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