Der verborgene Charme der Schildkröte
heilige Ritual des zweiten Frühstücks, das Valerie Jennings immer sehr ernst genommen hatte, beschränkte sich seit ihrem Essen mit Arthur Catnip auf einen geviertelten Apfel und eine Tasse Jasmintee. Als das jämmerliche Geräusch unter ihrer eigenen Bluse erneut anhob, stand Hebe Jones auf und verkündete, dass sie schnell mal rausgehe.
Sie stand gerade vorne in der Schlange im Coffee Shop um die Ecke und dirigierte die Zange der Verkäuferin in Richtung des größten Flapjacks in der Vitrine, da klopfte ihr jemand auf die Schulter. Sie drehte sich um und konnte die sanften braunen Augen und das glatte, mit Silbersträhnen durchzogene Haar sofort zuordnen.
»Hab ich doch richtig gesehen«, sagte Tom Cotton lächelnd. »Ich bin der, der die Niere verloren hat, erinnern Sie sich?« Er lud sie ein, sich zu ihm zu setzen, und zeigte auf einen Tisch. Ein kurzer Plausch mit ihm würde ihr die nötige Zeit gewähren, vor ihrer Rückkehr ins Büro ihr Haferflockenteilchen zu essen, also bezahlte Hebe Jones und folgte ihm.
»Haben Sie heute schon Zeitung gelesen?«, fragte er, als sie sich setzte. »Jemand hat das Bartschwein gesehen, das aus dem Londoner Zoo entlaufen ist.« Er hielt ihr die Zeitung hin und tippte auf das verschwommene Foto, das ein Leser aus Tewkesbury von einer Kreatur aufgenommen hatte, die hinten durch seinen Garten gerannt war.
»Für meine Begriffe sieht das nicht wie ein Schwein aus«, sagte sie und betrachtete das Bild. »Es hat eher Ähnlichkeit mit dem Ungeheuer von Loch Ness.«
Tom Cotton riss ein Tütchen Zucker auf und schüttete ihn in den Kaffee. »Die Niere, die Sie mir zu finden geholfen haben, hat übrigens das Leben eines Jungen gerettet«, sagte er.
Hebe Jones legte die Zeitung hin. »Wie alt war der Junge?«, fragte sie.
»Ungefähr acht, denke ich.«
Hebe Jones schwieg so lange, dass er sie schließlich fragte, ob alles in Ordnung sei.
»Das Leben meines Sohnes hat man nicht retten können«, sagte sie schließlich und schaute auf. »Die Ärzte haben uns versichert, dass sie nichts mehr hätten tun können, aber man hört nie auf, darüber nachzudenken.«
»Das tut mir sehr leid«, sagte er.
»Haben Sie Kinder?«, fragte sie.
Tom Cotton nahm einen Löffel. »Zwillinge«, antwortete er und rührte in seinem Kaffee herum. »Seit der Scheidung leben sie bei ihrer Mutter. Es war ziemlich hart, sie nur am Wochenende zu sehen. Ich kann mir nur schwer vorstellen, was Sie durchgemacht haben müssen«, sagte er.
Hebe Jones schaute beiseite. »Manche Leute denken, sie könnten es«, sagte sie dann. »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viele Menschen den Tod ihrer Haustiere ins Spiel bringen.«
Schweigend saßen sie da.
»Wie war er?«, fragte er.
»Milo?«, fragte sie lächelnd. »Ich habe ihn meinen Augenstern genannt, und das war er auch.« Sie erzählte, dass sie vom ersten Moment, da sie ihn gesehen hatte, in ihn verliebt gewesen sei. Während andere Mütter sich über Schlafmangel beklagten, hatte sie sich immer über sein nächtliches Geschrei gefreut, weil sie ihn dann in den Arm nehmen, ihre Wange an seinen samtigen Kopf legen und ihm die griechischen Wiegenlieder vorsingen konnte, die schon Generationen von Grammatikos-Babys in den Schlaf begleitet hatten. Als sie ihn an seinem ersten Schultag in die Schule brachte – der Junge trug damals die Hose, die sein Vater unbedingt für ihn hatte anfertigen wollen –, heulte sie mehr als sämtliche Kinder zusammen. Sie erzählte, wie große Angst er gehabt habe, als sie in den Tower gezogen seien, dass er ihn dann aber lieben gelernt habe, was diesen Ort um einiges erträglicher für sie habe werden lassen. Als die Familienschildkröte dann ihren Schwanz verlor, habe er fortan Tierarzt werden wollen, und obwohl er nicht besonders gut in Naturwissenschaften gewesen war, hegte sie keinerlei Zweifel, dass er seine Sache gut gemacht hätte. Sie erzählte, dass seine beste Freundin ein Mädchen namens Charlotte war. Sie lebte auch im Tower, und alle hatten schon gehofft, die beiden würden eines Tages heiraten, weil nur sein Vater den Jungen mehr zum Lachen brachte als dieses Mädchen. Und dann erzählte sie, dass auch sie selbst von niemandem mehr zum Lachen gebracht worden sei als von ihrem Ehemann, dass diese Zeiten aber längst vorbei seien, weil sie nach dem Verlust von Milo auch einander verloren hätten.
Als Hebe Jones endlich ins Fundbüro der Londoner Untergrundbahn zurückkehrte, hatte Valerie Jennings den
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