Der verborgene Charme der Schildkröte
gehabt hatte.
Er zog den Stuhl zurück, setzte sich an den Schreibtisch und fuhr mit dem Finger über das Holz, das seine Frau stets staubfrei gehalten hatte. In einem Stapel lag eine Mappe, die er sofort wiedererkannte, und er zog sie heraus. Auf dem Deckel klebte ein nicht vollkommen rechteckiger Zettel, auf dem stand: ›Fluchten aus dem Tower von London‹.
Der Beefeater öffnete die Mappe und dachte an die Zeit, als sie zusammen daran gearbeitet hatten. Sie waren zu Rev. Septimus Drew gegangen, einem Fachmann auf diesem Gebiet, hatten in der Küche gesessen, Marmeladentörtchen gegessen und der dramatischen Schilderung von ungefähr vierzig Fluchten gelauscht. Balthazar Jones betrachtete die erste Seite, die Ranulf Flambard gewidmet war, dem Bischof von Durham und ersten Gefangenen des Towers, der zufälligerweise auch der erste entflohene Häftling gewesen war. Er las den Bericht seines Sohns, wie der Bischof seine Wachen betrunken gemacht hatte, um sich dann mit einem Seil, das in einer Gallone Wein hereingeschmuggelt worden war, an der Außenmauer herabzulassen.
Als er umblätterte, fand er die Geschichte von John Gerard, einem Jesuitenpriester, der seine Wärter um Orangen gebeten und mit ihrem Saft auf scheinbar harmlose Briefe an seine Anhänger Botschaften geschrieben hatte, die erst lesbar wurden, wenn man sie über eine Kerzenflamme hielt. So hatte man einen Plan ausgeheckt, und der Geistliche und sein Mitgefangener John Arden entkamen bald darauf, indem sie mit Hilfe eines Seils vom Cradle Tower zum Kai hinübergeklettert waren. Der Beefeater musste an die vielen geheimen Botschaften denken, die er und Milo sich damals geschickt hatten, sehr zum Ärger von Hebe Jones, die nie ihre Orangen fand.
Hinten in der Mappe stieß er auf ein paar leere Seiten, auf denen nur jeweils der Name eines Gefangenen stand, und dachte daran, wie ausgezeichnet dieses Projekt geworden wäre, wenn Milo lange genug gelebt hätte, um es fertigzustellen. Er nahm einen Stift aus dem Becher hinten auf dem Schreibtisch und hielt ihn so, wie sein Sohn ihn gehalten hätte.
Er ging weiter zum Kleiderschrank und öffnete die Tür. Sofort schlug ihm Milos Geruch entgegen, und er blieb einen Moment lang wie erstarrt stehen. Schließlich zog er mit beiden Händen die Bügel auseinander und dachte bei jedem Kleidungsstück daran, wie sein Sohn darin ausgesehen hatte. Als sein Blick auf die Schuhe unten im Kleiderschrank fiel, kamen sie ihm unglaublich klein vor. Plötzlich ertrug er den vertrauten Geruch nicht länger, schloss die Tür, knipste das Licht aus und ertastete sich den Weg zu seinem leeren Zuhause oben.
KAPITEL VIERZEHN
Nach einer letzten gewaltigen Erschütterung, die sich bis zu seinen arthritischen Knien hinab fortpflanzte, brach der Rabenmeister auf Ambrosine Clarke zusammen. Während er den Schweißgeruch ihrer Haare einatmete, flogen die Vögel in der Voliere nebenan weiterhin hysterisch im Kreis herum, aufgeschreckt von den Schreien der Köchin, die mit jedem Hüftstoß des Rabenmeisters auf den Holzdielen hin und her gerutscht war. Schließlich legte sich das wilde Geflatter. Nur die Tukane wetzten weiterhin ihre bunten Schnäbel.
Als er seine schwarzen Socken anzog, betrachtete er die Köchin, die ihre großen, weißen Brüste in den Büstenhalter stopfte. Ihre Haare waren noch platt gedrückt, wo er sich zur Steigerung des Genusses festgeklammert hatte. Verblüfft wie immer, wie schnell das Inferno des Begehrens erlosch, griff er nach seiner mit Samenspelzen übersäten Uniform. Während er die Hose anzog, verkrampfte sich sein Magen bei dem Gedanken an die Qualen, die ihre heimlichen Treffen beschlossen. Nach dem Anziehen würde Ambrosine Clarke unweigerlich zu ihrem Korb greifen und ungeachtet der Proteste des Rabenmeisters, dass ihm der Appetit vergangen sei, den Inhalt auspacken. Ein Blick auf die Speisen genügte, um zu begreifen, dass seine Buße an diesem Morgen in dem kompletten viktorianischen Frühstück bestand, mit dem sie schon seit Wochen drohte – Nieren, Schellfisch in Blätterteig und eine Sülze in Hasenform inklusive. Während der Rabenmeister das alles hinunterzwang, war er überzeugt davon, dass diese Folter die Leiden von William Wallace, dessen Schreie auf der Streckbank man gelegentlich durch den Brick Tower hallen hörte, deutlich in den Schatten stellte.
Die Köchin ging als Erste und schaute vorsichtig aus dem Fenster, bevor sie die schwere Eichentür öffnete. Der Rabenmeister
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