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Der verborgene Charme der Schildkröte

Titel: Der verborgene Charme der Schildkröte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Stuart
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bändigen versucht, den Versuch aber offenbar frühzeitig aufgegeben und das krause Ergebnis dann am Hinterkopf festgesteckt.
    »Gut siehst du aus«, sagte Hebe Jones.
    Beide Frauen setzten sich an ihren Schreibtisch und machten sich daran, verlorene Gegenstände mit ihren geistesabwesenden Besitzern wieder zu vereinen. Erst als Hebe Jones aufstand, um sich noch eine Tasse Tee zu kochen, bemerkte sie plötzlich die augenfällige Veränderung. »Die Zauberkiste ist ja rosa«, sagte sie und schlug sich die Hand vor den Mund.
    Valerie Jennings drehte sich um, das Auge von der Lupe stark vergrößert, mit deren Hilfe sie das Manuskript zu entziffern versuchte. »Ich dachte, sie könnte ein wenig frische Farbe vertragen.«
    Hebe Jones kehrte an ihren Platz zurück, betrachtete das Lotusblatt auf einem der bestickten chinesischen Pantöffelchen und behielt ihre Meinung über das Verhalten ihrer Kollegin für sich. Es war überaus nett von Valerie Jennings, dass sie ihr das Gästezimmer angeboten hatte, weil es ihr selbst zu peinlich war, ihre Schwestern darum zu bitten. Und statt Fragen zu stellen, die zu beantworten sie nicht ertragen würde, setzte ihre Kollegin sie abends einfach in ihren Lehnstuhl mit der ausklappbaren Fußstütze und reichte ihr ein Glas Wein. Das Abendessen kochte sie zwar nicht mit dem Talent ihrer Schwestern, aber die Liebe, mit der sie es tat, war sicher ebenso schwesterlich.
    Kurz nach Verzehr ihrer Apfelviertel zum zweiten Frühstück vernahm Hebe Jones das Geräusch rollenden Donners aus der Magengegend. Sie holte ihren türkisfarbenen Mantel vom Ständer neben der aufblasbaren Puppe und verkündete, dass sie nur mal schnell hinausgehe.
    Sobald sie weg war, steckte Valerie Jennings die Hand in ihre schwarze Handtasche, zog ein Taschenbuch heraus und stellte es an seinen Platz im Bücherregal zurück. Als sie die Regale nach ihrer nächsten Lektüre absuchte, läutete die Schweizer Kuhglocke. Verärgert, dass sie während des wichtigsten Akts des Tages gestört wurde, trat sie um die Ecke. Am Schalter stand ein Mann mit einem schwarzen Zylinder und einem ebenfalls schwarzen Cape, das bis zum Boden hinabwallte. Unter seinem Arm steckte ein Zauberstab.
    »Ich würde gerne mit einer gewissen Valerie Jennings sprechen«, sagte er und warf das eine Ende des Capes über die Schulter, so dass das rote Seidenfutter sichtbar wurde.
    »Ach so, ja. Ich habe Sie erwartet«, sagte sie und öffnete die Klappe. »Kommen Sie bitte hier entlang.«
    Sie führte ihn durchs Büro zu der Zauberkiste, die sie am Morgen umgestrichen hatte, damit Hebe Jones ihr Heiligtum nicht verlieren würde. Der Mann strich mit seiner weiß behandschuhten Hand über die Oberfläche. »Sonderbar«, sagte er. »Außer der Farbe ist sie genau wie meine. Sogar die Macken im Holz, wo ich nicht exakt gesägt habe, sind dieselben.«
    Valerie Jennings verschränkte die Arme vor ihrer gewaltigen Brust und sah den Besitzer an. »Ich nehme an, es hilft nicht viel, wenn die Assistentin schreit«, sagte sie. »Vermutlich ist es schwer zu unterscheiden, ob sie das nur fürs Publikum tut oder ob sie tatsächlich durchgesägt wird. Aber egal, wenn es nicht die richtige Kiste ist, begleite ich Sie zur Tür. Wenn Sie mir bitte folgen würden …«
    Als kurz vor Mittag die Schweizer Kuhglocke läutete, tat Valerie Jennings ’ Herz einen Sprung. Sie bedeckte ihre Lippen mit einer weiteren Schicht Zartlila, zog am Garderobenständer ihren Mantel an und trat um die Ecke herum, ihre Füße in Schuhen, die ihre Zehen zu zwei roten Dreiecken zusammenpressten. Statt des tätowierten Fahrkartenkontrolleurs stand allerdings eine Frau in Dufflecoat und Baskenmütze am Schalter und war in Tränen aufgelöst. »Hat irgendjemand einen Stiefel abgegeben«, fragte sie und hielt sich am Tresen fest.
    Es handele sich nicht um einen gewöhnlichen Stiefel, fuhr sie fort. Einst habe er Edgar Evans gehört, dem walisischen Unteroffizier, der bei der Rückkehr von der Südpolexpedition unter Kapitän Scott gestorben war. Die Kuratorin erzählte, wie sie plötzlich aus dem Waggon gestürzt war, als sie gemerkt hatte, dass sie mit der Northern Line in Richtung Süden fuhr und nicht, wie der Name vermuten ließ, in Richtung Norden. Erst als die Waggontür sich geschlossen hatte, war ihr aufgefallen, dass sie das berühmte Schuhwerk vergessen hatte. Eigentlich hatte es in einem spektakulären Akt mit seinem Gegenstück wieder vereint werden sollen, das seit Jahrzehnten der

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