Der verborgene Charme der Schildkröte
worden war. Und nun traf er die Entscheidung, einen weiteren Brief zu schreiben.
Sorgfältig schloss er die Tür des Develin Towers wieder ab, und als er sich nach Hause begab, trieb ihn ein leichter Wind der Hoffnung an. Er stieg die gesamte Treppe hoch, drückte den Riegel hinunter und betrat den Raum, in dem während des Zweiten Weltkriegs deutsche U-Boot-Männer eingekerkert gewesen waren. Die mit Kreide an die Wand gezeichneten Hakenkreuze und das Porträt von Feldmarschall Göring beachtete er gar nicht, sondern zog mit einem kläglichen Quietschen den Holzstuhl zurück und setzte sich an den Tisch, den er in einem Ramschladen gefunden hatte. Er nahm ein Blatt Briefpapier von einem Stapel und schrieb mit derselben Schönschrift, die sich in drei Jahrzehnten nicht verändert hatte, die Worte: »Liebe Hebe.«
Der Gefühlsausbruch, der nun folgte, war so überschwänglich wie verzweifelt. Er erzählte seiner Frau, wie in jener ersten Nacht, als sie die Spitzen seiner Finger geküsst hatte, in denen er bald schon eine Waffe halten sollte, der Samen der Liebe in ihm gesät worden war. Er erzählte ihr, wie bitterlich er es bedauert hatte, dass er am nächsten Morgen aufbrechen musste, dass aber die Triebe ihrer Liebe trotz der Entfernung zwischen ihnen gewachsen waren. Er erzählte ihr von dem Schmetterling, der in die Kirche geflogen und über ihren Köpfen auf und ab getanzt war, angezogen von ihrer blühenden Liebe. Und er erzählte ihr, dass Milo, die Frucht ihrer Liebe, die größte Freude seines Lebens war, zusammen mit der Ehre, ihr Ehemann sein zu dürfen.
Er hielt inne und schaute zum Kaminsims am anderen Ende des Zimmers hinüber, sah aber nichts als seinen Sohn, der, nur wenige Stunden alt, in den Armen seiner Mutter lag, ein Moment, auf den sie so viele Jahre gewartet hatten. Dann kehrten seine Gedanken allerdings zu dem schrecklichen, schrecklichen Tag zurück, und die Klingen, die in seinem Herzen steckten, bohrten sich noch tiefer hinein. Wohl wissend, dass seine Ehefrau ihm nie verzeihen würde, wenn sie je herausbekäme, was er getan hatte, zerriss er den Brief. Den Rest des Morgens über blieb er im Bewusstsein seiner Schuld am Tisch sitzen, den Kopf in den Händen, während der Regen gegen das Fenster schlug.
Als das Türchen der Kuckucksuhr aufsprang und der winzige Holzvogel herausschoss, um elf irre Schreie auszustoßen, hängte Hebe Jones das ›Bin-in-15-Minuten-zurück‹-Schild auf und ließ das Gitter herunter. In der Hoffnung, die Entschlossenheit ihrer Kollegin möge endlich ins Wanken geraten sein, wartete sie an ihrem Schreibtisch. Als sich Valerie Jennings, die im Kühlschrank herumkramte, aber endlich wieder erhob, hielt sie statt des erhofften Buttergebäcks die gleichen grünen Äpfel in der Hand, mit denen Hebe Jones nun schon länger leben musste, als sie es sich je vorzustellen gewagt hätte.
Obwohl Valerie Jennings ihr bereits jedes Detail über das Picknick erzählt hatte, hörte sie sich ihre Schilderungen noch einmal an und nippte dazu an ihrem Jasmintee. Wieder vernahm sie, dass Arthur Catnip ihrer Kollegin eine Decke gereicht hatte, damit sie nicht fror. Wieder hörte sie von den Gläsern, die er für den Wein mitgebracht hatte, und zwar keine aus Plastik, sondern solche aus Kristall. Wieder erfuhr sie, dass er in der vorangegangenen Nacht stundenlang in der Küche gestanden haben musste, um all dieses Essen zuzubereiten, und dass ihre Kollegin aus Höflichkeit ihre Diät vergessen und schließlich sogar noch die Rhabarberspeise mit Vanillesoße probiert hatte.
Nach dem zweiten Frühstück spülte Hebe Jones die Tassen ab und dachte daran, dass ihr Ehemann ihr auch stets eine Decke gereicht hatte, damit sie im Salt Tower nicht fror. Und auch wenn er sich nie damit abgequält hatte, irgendwelche Teigtaschen zu backen, war er doch ein Experte für Tomatenchutney gewesen, zumindest bis zu dem Tag, als der Chief Yeoman Warder seine und Milos Anpflanzung neben dem Salt Tower entdeckt und ihre Zerstörung angeordnet hatte.
Als sie das Gitter hochzog, wartete bereits einer der Fahrkartenkontrolleure am Schalter. Neben ihm stand ein hölzerner Sarkophag mit einer angeschlagenen Nase.
»Ist irgendetwas drin?«, fragte Hebe Jones und ließ den Blick darübergleiten.
»Nur ein paar alte Bandagen«, antwortete er. »Die Mumie ist wohl schon früher ausgestiegen.«
Nachdem Hebe Jones den Sarkophag ins Register eingetragen hatte, schleppte sie ihn mit Hilfe des Mannes in die
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