Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
»Nein.«
»Sie wussten also, dass Ivory entgegen der offiziellen Darstellung noch lebte?«
Das Feuer knisterte. »Das konnte ich nicht wissen, weil es nicht so war. Das Kind ist an Scharlach gestorben.«
»Ja, ich weiß, dass das damals behauptet wurde«, sagte Nell. Ihr Gesicht war heiß, ihr Schädel pochte. »Aber ich weiß auch, dass es nicht stimmt.«
»Woher wollen Sie das denn wissen?«
»Weil ich das Kind bin«, antwortete Nell mit zitternder Stimme. »Ich bin mit vier Jahren in Australien angekommen. Eliza Makepeace hat mich auf ein Schiff gesetzt, während alle glaubten, ich wäre tot, und anscheinend kann mir niemand erklären, warum.«
Williams Gesichtsausdruck war schwer zu deuten. Er schien etwas sagen zu wollen, ließ es jedoch bleiben.
Stattdessen stand er auf und streckte sich, sodass sein Bauch sich vorwölbte. »Ich bin müde«, knurrte er. »Zeit, mich in die Falle zu hauen.« Dann rief er: »Robyn?« Noch einmal, diesmal lauter: »Robyn!«
»Ja, Gump?« Robyn kam mit einem Geschirrtuch in der Hand aus der Küche. »Was ist denn?«
»Ich gehe schlafen.« Er ging auf die schmale Treppe zu, die vom Zimmer aus nach oben führte.
»Willst du nicht noch eine Tasse Tee? Wir sitzen doch gerade so gemütlich zusammen.« Verwirrt schaute sie Nell an.
William legte Robyn im Vorbeigehen eine Hand auf die Schulter. »Sei so gut und mach die Tür hinter dir zu, wenn du rausgehst, damit der Nebel nicht reinkommt.«
Während Robyn ihn mit vor Verwunderung geweiteten Augen ansah, nahm Nell ihren Mantel. »Ich sollte jetzt lieber gehen.«
»Es tut mir furchtbar leid«, sagte Robyn. »Ich weiß gar nicht, was plötzlich in ihn gefahren ist. Er ist sehr alt, er wird schnell müde …«
»Natürlich.« Nell knöpfte ihren Mantel zu. Eigentlich hätte sie sich entschuldigen müssen, schließlich war es ihre Schuld, dass
der alte Mann so aus dem Häuschen geraten war, aber sie brachte es nicht fertig. Die Enttäuschung schnürte ihr die Kehle zu. »Danke, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben«, brachte sie mühsam hervor, als sie in den dichten Nebel hinaustrat.
Am unteren Ende der steilen Straße angekommen, drehte Nell sich noch einmal um. Robyn schaute ihr immer noch nach. Als die junge Frau ihr zuwinkte, winkte sie zurück.
William Martin mochte alt und müde sein, aber sein plötzlicher Rückzug hatte einen anderen Grund. Nell musste es wissen, denn sie hatte ihr dorniges Geheimnis lange genug gehütet, um einen Leidensgenossen zu erkennen. William wusste mehr, als er zugab, und Nells Bedürfnis, die Wahrheit zu erfahren, überwog bei Weitem ihren Respekt vor seiner Privatsphäre.
Sie presste die Lippen zusammen und senkte den Kopf zum Schutz gegen den Wind, entschlossen, den Alten dazu zu bringen, dass er ihr alles erzählte, was er wusste.
26 Blackhurst Manor Cornwall, 1900
Eliza hatte recht: »Rose« war ein passender Name für eine Märchenprinzessin, und Rose Mountrachet war zweifellos vom Schicksal mit dem Privileg der gesellschaftlichen Stellung und der ungewöhnlichen Schönheit gesegnet, die es brauchte, um eine solche Rolle ausfüllen zu können. Leider waren die ersten zwölf Lebensjahre der kleinen Rose alles andere als märchenhaft gewesen.
»Weit aufmachen.« Dr. Matthews nahm einen Holzspatel aus seinem ledernen Koffer und drückte Rose’ Zunge herunter. Als er sich vorbeugte, um ihren Hals zu inspizieren, kam sein Gesicht dem ihren so nah, dass Rose das unfreiwillige Vergnügen hatte,
seine Nasenhaare zu begutachten. »Hmm«, brummte er, und die kleinen Härchen erzitterten.
Rose hustete schwach, als der Spatel sie in der Kehle kratzte.
»Nun, Doktor?« Mama trat aus dem Schatten, ihre langen, dünnen Finger hoben sich blass von ihrem dunkelblauen Kleid ab.
Dr. Matthews richtete sich zu voller Größe auf. »Es war richtig, dass Sie mich gerufen haben, Lady Mountrachet. Es handelt sich in der Tat um eine Entzündung.«
Mama seufzte. »Dachte ich’s mir doch. Haben Sie eine Arznei mitgebracht?«
Während Dr. Matthews seine Behandlungsmethode erläuterte, wandte Rose den Kopf zur Seite und schloss die Augen. Gähnte ein bisschen. Seit sie denken konnte, wusste sie, dass ihr nicht viel Zeit auf dieser Welt vergönnt sein würde.
In schwachen Momenten erlaubte sie es sich hin und wieder, sich auszumalen, wie ihr Leben sein könnte, wenn sie nicht wüsste, dass ihr ein baldiges Ende beschieden war, wenn es vor ihr läge wie eine lange, gewundene Straße, die zu einem
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