Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
…« Rose schüttelte sich. »Sie war von oben bis unten voll mit Laub …«
Mama legte einen Finger an ihre Lippen. Als sie sich zum Fenster umwandte, bebte die dunkle Locke in ihrem Nacken. »Sie hat kein anderes Zuhause mehr, deswegen haben dein Vater und ich uns bereit erklärt, sie bei uns aufzunehmen. Ein Akt christlicher Nächstenliebe, den sie nicht zu schätzen weiß und erst recht nicht verdient hat, aber man muss ja immer zeigen, dass man ein rechtschaffenes Leben führt.«
»Aber was soll sie denn hier tun , Mama?«
»Sie wird uns zweifellos viel Ärger bereiten. Aber wir konnten sie schlecht abweisen. Es hätte gar keinen guten Eindruck gemacht, wenn wir nicht entsprechend reagiert hätten, also haben wir uns entschlossen, aus der Not eine Tugend zu machen.« Ihre Worte hörten sich ziemlich gequält an, und sie schien selbst zu spüren, wie hohl sie klangen, denn sie verstummte.
»Mama?«, fragte Rose vorsichtig.
»Du wolltest wissen, was sie hier tun soll?« Mama schaute Rose an und sagte mir einem scharfen Unterton: »Ich vertraue sie dir an.«
»Du vertraust sie mir an?«
»Damit du eine Aufgabe hast. Sie wird dein Schützling sein.
Wenn du wieder gesund genug bist, wirst du ihr beibringen, wie man sich benimmt. Sie ist halb wild, zeigt keine Spur von Anmut oder Charme. Eine Waise, die kaum oder nie Unterweisung in Umgangsformen genossen hat.« Mama atmete aus. »Natürlich mache ich mir keine Illusionen und erwarte kein Wunder von dir.«
»Ja, Mama.«
»Eine Katze lässt das Mausen nicht, und ein Gassenkind wird nie zu einer Rose erblühen. Aber wir müssen tun, was wir können, sie muss geläutert werden. Welchen schlimmen Einflüssen diese Waise ausgesetzt war, mein Kind, können wir nur ahnen. Sie ist in London in einem von Dekadenz und Sünde geprägten Umfeld aufgewachsen.«
Da wusste Rose auf einmal, wer dieses Mädchen war. Diese Eliza war das Kind von Papas Schwester, der geheimnisvollen Georgiana, deren Porträt Mama auf den Dachboden verbannt hatte und über die niemand zu sprechen wagte.
Niemand außer Großmama.
Als die alte Frau wie eine verwundete Bärin nach Blackhurst zurückgekehrt war und sich in ein Turmzimmer zurückgezogen hatte, um zu sterben, war sie immer wieder halb aus ihrem Dämmerzustand erwacht und hatte in hastig ausgestoßenen Worten von zwei Kindern namens Linus und Georgiana gesprochen. Rose wusste, dass mit Linus ihr Vater gemeint war, und schloss daraus, dass es sich bei Georgiana um seine Schwester handeln musste. Die Tante, die vor Rose’ Geburt verschwunden war.
Damals hatte das Schicksal es gewollt, dass Rose sich vergleichsweise guter Gesundheit erfreute, und Mama hatte sie immer wieder dazu ermuntert, ihrer Großmama Gesellschaft zu leisten. Es sei überaus wichtig, hatte sie erklärt, dass eine junge Dame lernte, sich um Kranke und Sterbende zu kümmern. Zwar hatte Rose den Verdacht, dass Mamas Wunsch, Rose möge sich um ihre Großmutter kümmern, eher daher rührte, dass sie sich
selbst nicht überwinden konnte, der alten Frau beizustehen, doch sie protestierte nicht. Denn Rose mochte es, am Bett ihrer Großmama zu sitzen. Ihr beim Schlafen zuzusehen in dem Bewusstsein, dass jeder Atemzug ihr letzter sein konnte.
Es war ein Sommermorgen, und Rose saß im Sessel am Fenster, wo eine warme Meeresbrise ihren Nacken streichelte, als Großmama plötzlich die Augen öffnete und blinzelte. Rose, die gedankenverloren die Schweißperlen auf der Stirn der alten Frau betrachtet hatte, atmete scharf ein.
Die alten Augen waren groß und blass, ausgebleicht von einem Leben voller Verbitterung. Einen Moment lang starrte Großmama sie an, schien sie jedoch nicht zu erkennen und ließ den Blick zur Seite wandern, anscheinend fasziniert von den vom Wind gebauschten Gardinen. Instinktiv wollte Rose schon nach Mama klingeln - es war Stunden her, dass Großmama zuletzt aufgewacht war -, aber als sie gerade die Hand nach der Glocke ausstrecken wollte, stieß die alte Frau einen Seufzer aus, so tief, dass alle Luft aus ihr zu weichen schien und ihre Knochen scharf hervortraten.
Dann, wie aus dem Nichts, umfasste eine runzlige Hand Roses Handgelenk. »Was für ein hübsches Mädchen«, sagte Großmama so leise, dass Rose sich über sie beugen musste, um sie zu verstehen. »Viel zu hübsch, es war ein Fluch. Alle jungen Männer drehten sich nach ihr um. Er konnte nicht anders, hat ihr überall nachgestellt. Dachte, wir wüssten nichts davon. Dann ist sie
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