Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
ihr unbekannten Ziel führte, mit Meilensteinen wie einem Debütantinnenball, einem Ehemann, Kindern, einem vornehmen Haus, mit dem sie andere Damen beeindrucken konnte. Ach, wie sehr sie sich im Grunde ihres Herzens nach einem solchen Leben sehnte.
Aber solchen Tagträumen gab sie sich nicht oft hin. Was nützte es, zu jammern und zu klagen? Stattdessen wartete sie geduldig, erholte sich, arbeitete an ihren Zeichnungen. Las, wenn ihr Gesundheitszustand es erlaubte, von Orten, die sie niemals sehen würde, sammelte Stoff für Gespräche, die sie nie führen würde. Wartete auf den nächsten, unvermeidlichen Zwischenfall, der sie dem Ende näher bringen würde, hoffte, dass die nächste Krankheit interessanter verlaufen würde. Mit weniger Schmerzen und mehr Trost. Wie das eine Mal, als sie Mamas Fingerhut verschluckt hatte.
Das war natürlich keine Absicht gewesen. Wenn der Fingerhut nicht so prächtig in seiner silbernen Halterung geglitzert hätte, wäre sie gar nicht auf die Idee gekommen, ihn überhaupt in die Hand zu nehmen. Aber so war es nun mal gewesen. Welche Achtjährige hätte der Verlockung widerstehen können? Sie hatte versucht, den Fingerhut auf der Zungenspitze zu balancieren, so ähnlich wie der Clown in ihrem Zirkusbuch, der einen roten Ball auf seiner dicken, roten Nase balancierte. Eine ziemliche Dummheit eigentlich, aber sie war schließlich noch ein Kind, und außerdem hatte sie das Kunststück schon einige Monate lang vollbracht, ohne dass ein Unglück passiert wäre.
Der Zwischenfall mit dem Fingerhut war jedenfalls ein voller Erfolg gewesen. Man hatte sofort nach dem Arzt geschickt, einem jungen Mann, der erst kürzlich die Praxis im Dorf übernommen hatte. Er hatte ihren Körper befühlt und betastet, wie Ärzte das eben so taten, und dann mit zitternder Stimme vorgeschlagen, einen neuartigen Apparat zu Hilfe zu nehmen, der eine genauere Diagnose ermöglichte, einen fotografischen Apparat, der es ihm erlaubte, direkt in Roses Bauch hineinzuschauen, ohne ein Skalpell auch nur in die Hand nehmen zu müssen. Alle hatten seinen Vorschlag freudig begrüßt: Vater, der als erfahrener Fotograf das moderne Gerät bedienen sollte, Dr. Matthews, dem gestattet wurde, die Bilder in einer speziellen Zeitschrift namens The Lancet zu veröffentlichen, und Mama, weil die Veröffentlichung in ihren gesellschaftlichen Kreisen für Aufregung sorgte.
Rose hatte den Fingerhut etwa achtundvierzig Stunden später (äußerst unschicklich) einfach ausgeschieden, und sie war sich ganz sicher, dass es ihr endlich einmal gelungen war, das, wenn auch kurzlebige, Wohlwollen ihres Vaters zu gewinnen. Nicht dass er etwas dergleichen ausgesprochen hätte, das war nicht seine Art, aber Rose besaß ein untrügliches Gespür für die Stimmungen ihrer Eltern (auch wenn sie deren jeweilige Ursachen
noch nicht durchschaute). Und die Freude ihres Vaters hatte Roses Herz vor Glück jubilieren lassen.
»Gestatten Sie, dass ich meine Untersuchung fortsetze, Lady Mountrachet?«
Rose seufzte, als Dr. Matthews ihr Nachthemd hochschob und ihren Bauch freilegte. Sie drückte die Augen fest zu, als kalte Finger ihre Haut betasteten, und dachte an ihren Zeichenblock. Seit Mama ihr aus London eine Zeitschrift mit Bildern der neuesten Brautmode besorgt hatte, war Rose dabei, mit Spitzen und Seidenbändern zu basteln. Die Braut in ihrem Zeichenblock wurde von Tag zu Tag prächtiger ausgestattet: ein Schleier aus belgischer Spitze, winzige Perlchen am Rocksaum, ein Strauß aus gepressten Blumen. Der Bräutigam stellte für sie eine weit schwierigere Aufgabe dar, mit Gentlemen kannte sie sich nicht aus. (Und das war auch richtig so, denn über so etwas Bescheid zu wissen, gehörte sich nicht für junge Mädchen.) Aber die Details an der Aufmachung des Bräutigams waren nicht so wichtig, fand Rose, Hauptsache, die Braut war hübsch und rein.
»Es sieht alles zufriedenstellend aus«, sagte Dr. Matthews, während er Roses Nachthemd wieder in Ordnung brachte. »Zum Glück handelt es sich nicht um eine schlimme Entzündung. Darf ich jedoch vorschlagen, Lady Mountrachet, dass wir uns ausführlich über die weitere Behandlung unterhalten?«
Rose öffnete die Augen gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Dr. Matthews ihre Mama unterwürfig anlächelte. Wie lästig er war, immer darauf aus, sich eine Einladung zum Tee zu erschleichen, um noch mehr Angehörigen des Landadels vorgestellt zu werden, denen er sich als Arzt andienen konnte. Die
Weitere Kostenlose Bücher