Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
anders konnte es gar nicht sein.
»Es ist irgendwie genauso wie in Elizas Märchen, nicht wahr?«
Cassandra schaute Christian an. »Was?«
»Die ganze Geschichte: Rose, Eliza, Mary, das Kind. Erinnert Sie das nicht an das Märchen Das goldene Ei ?«
Cassandra schüttelte den Kopf. Den Titel kannte sie nicht.
»Es steht in dem Buch Zauberhafte Märchen für Mädchen und Jungen .«
»In meinem nicht. Wir müssen verschiedene Ausgaben haben.«
»Es gibt nur eine Ausgabe. Deswegen sind die Exemplare ja so selten.«
Cassandra hob die Schultern. »Ich kenne es nicht.«
Ruby wedelte mit der Hand. »Egal, wen interessiert es schon, wie viele Ausgaben existieren? Erzählen Sie uns das Märchen, Christian. Wie kommen Sie darauf, dass es von Mary und dem Kind handelt?«
»Es ist ein ziemlich merkwürdiges Märchen, finde ich. Anders als die restlichen, trauriger, und die Moral ist irgendwie schräg. Es handelt von einer bösen Königin, die eine Jungfrau dazu überredet, ein goldenes Zauberei herauszurücken, das die kranke Prinzessin heilen soll. Anfangs sträubt sich die Jungfrau, denn es ist ihre Aufgabe, das Ei zu hüten - ich glaube, im Märchen heißt es, es ist ihr Geburtsrecht -, aber die Königin lässt nicht locker, und am Ende gibt die Jungfrau nach, weil sie zu der Überzeugung gelangt, dass die Prinzessin andernfalls ewig leiden muss und das Königreich zu ewigem Winter verdammt ist, wenn sie das Ei nicht hergibt. Dann kommt noch eine Figur in dem Märchen vor, die als Vermittlerin auftritt, eine Dienerin. Sie arbeitet für die Prinzessin und die Königin, aber am Ende versucht sie, die Jungfrau dazu zu überreden, sich nicht von dem Ei zu trennen. Sie begreift, dass das Ei zu der Jungfrau gehört, dass sie ohne das Ei ihren Lebenssinn verliert. Und genau das passiert: Sie gibt der Königin das Ei, und damit ruiniert sie ihr Leben.«
»Und Sie meinen, die Dienerin ist Eliza?«, fragte Cassandra.
»Würde doch passen, oder?«
Ruby stützte das Kinn in die Hand. »Also, lassen Sie mich mal rekapitulieren. Das Ei ist demnach das Kind? Nell?«
»Ja.«
»Und Eliza hat das Märchen geschrieben, um ihr Gewissen zu erleichtern?«
Christian schüttelte den Kopf. »Nein, das Märchen handelt nicht von Schuld, sondern von Trauer. Um sie selbst und um Mary. Und irgendwie auch um Rose. Alle Figuren in dem Märchen tun das, was sie für das Richtige halten, aber es kann nicht für alle gut ausgehen.«
Cassandra biss sich auf die Lippe. »Glauben Sie wirklich, ein Kindermärchen kann autobiografisch sein?«
»Nicht wirklich autobiografisch, jedenfalls nicht im wörtlichen Sinn, es sei denn, Eliza hat ziemlich schlimme Erfahrungen gemacht.« Er überlegte. »Ich nehme einfach an, dass sie ihr Leben zumindest zum Teil durch das Schreiben der Märchen verarbeitet hat. Tun das denn nicht die meisten Schriftsteller?«
»Ich weiß nicht. Tun sie das?«
»Ich bringe das Buch morgen mit«, sagte Christian. »Dann können Sie sich selbst ein Urteil bilden.« Das dunkelgelbe Kerzenlicht betonte seine Wangenknochen, brachte seine Haut zum Leuchten. Plötzlich breitete sich ein schüchternes Lächeln auf seinem Gesicht aus. »Die Märchen sind die einzige Stimme, die Eliza heute noch hat. Wer weiß, was sie uns sonst noch alles zu sagen versucht?«
Nachdem Christian sich verabschiedet hatte, breiteten Ruby und Cassandra ihre Schlafsäcke auf den Isomatten aus, die er ihnen mitgebracht hatte. Sie hatten sich entschlossen, ihr Schlaflager im Erdgeschoss aufzuschlagen, um die Wärme des Herds auszunutzen. Der Wind fegte durch die Ritzen unter den Türen und zwischen den Bodendielen hindurch. Noch mehr als tagsüber fiel Cassandra der Geruch nach feuchter Erde auf, der das ganze Haus erfüllte.
Ruby drehte sich in ihrem Schlafsack zu Cassandra um. »Jetzt müssten wir uns eigentlich Gespenstergeschichten erzählen«, flüsterte sie grinsend. Ihr Gesicht wirkte gruselig verzerrt im flackernden Licht. »Gott, ist das aufregend. Hab ich dir schon mal gesagt, was für ein Glückspilz du bist? Wahnsinn - ein verwunschenes Haus auf einer Klippe am Meer zu erben!«
»Ja, das hast du. Ein- oder zweimal.«
Ruby lächelte verschmitzt. »Und auch, was du für ein Glück
hast, einen so gut aussehenden und klugen und fürsorglichen Freund wie Christian zu haben?«
Cassandra konzentrierte sich auf den Reißverschluss ihres Schlafsacks und zog ihn mit übertriebener Sorgfalt zu.
»Einen ›Freund‹, der offenbar findet,
Weitere Kostenlose Bücher