Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
sich vorsichtig darauf und öffnete den weißen Koffer.
Nachdenklich blätterte sie in ihren Unterlagen: Da waren Robyns Aufzeichnungen über die Familie Mountrachet, die Berichte des Detektivs, den sie beauftragt hatte, nach Eliza zu forschen, die Korrespondenz mit dem Anwalt, der den Kauf des Cliff Cottage für sie abgewickelt hatte. Nell suchte das Schreiben, in dem es um die Grundstücksgrenzen ging, und betrachtete den Lageplan. Es war deutlich zu erkennen, dass es sich bei dem Teil des Grundstücks, von dem der kleine Christian gesprochen hatte, um einen Garten handelte. Sie fragte sich, wer in aller Welt das Tor zugemauert haben könnte - und warum.
Während sie vor sich hin grübelte, glitt ihr das Blatt aus der Hand und segelte auf den Boden. Als sie sich bückte, um es aufzuheben, fiel ihr etwas auf. Die Fußleiste hatte sich durch die Feuchtigkeit leicht verzogen, sodass sie sich ein Stück von der Wand gelöst hatte. Dahinter klemmte ein Stück Papier. Nell packte es an einer Ecke und zog es vorsichtig heraus.
Ein kleines, von Stockflecken verunstaltetes Stück Pappe mit einer Zeichnung von einem Frauengesicht. Nell erkannte die Frau von dem Porträt, das sie in London gesehen hatte. Es war Eliza Makepeace, aber diese Zeichnung war ganz anders. Im Gegensatz zu dem Bild von Nathaniel Walker, auf dem sie so unberührbar
wirkte, strahlte dieses Porträt etwas Intimeres aus. Etwas in ihren Augen ließ darauf schließen, dass der Künstler Eliza besser gekannt hatte als Nathaniel. Kräftige Striche, schwungvolle Linien und vor allem der Ausdruck: Der Blick faszinierte und berührte sie. Nell meinte sich zu erinnern, dass diese Augen sie auf genau dieselbe Weise angeschaut hatten, so als könnten sie in einen hineinsehen.
Nell glättete das Bild. Unglaublich, dass es dort so lange gelegen hatte. Sie nahm das Märchenbuch aus dem Koffer. Eigentlich hatte sie gar nicht recht gewusst, warum sie es überhaupt mitgenommen hatte, nur dass es ihr ein Bedürfnis gewesen war, die Märchen an den Ort zurückzubringen, an dem Eliza Makepeace sie vor vielen Jahren geschrieben hatte. Völlig albern und sentimental. Aber jetzt war sie froh, dass sie das Buch zur Hand hatte. Sie schlug es auf und legte die Porträtzeichnung hinein. Da war sie sicher aufgehoben.
Nell lehnte sich auf dem Stuhl zurück und fuhr mit der Hand über den Einband des Buchs, über das weiche Leder mit dem erhaben aufgedruckten Bild von einem Mädchen mit einem Reh. Es war ein schönes Buch, ebenso schön wie viele, die Nell an ihrem Antiquitätenstand verkauft hatte. Und es war so gut erhalten; in den Jahrzehnten, die es in Haims Obhut gewesen war, hatte es keinen Schaden erlitten. Das warme Klima eines Dachbodens in Brisbane stellte offenbar optimale Bedingungen dar.
Obwohl sie sich eigentlich mit viel weiter zurückliegenden Ereignissen beschäftigen wollte, kehrten Nells Gedanken immer und immer wieder zu Haim zurück. Vor allem musste sie an die vielen Abende denken, an denen er ihr aus dem Märchenbuch vorgelesen hatte. Lil hatte sich gesorgt, die Märchen könnten für ein kleines Mädchen zu Furcht einflößend sein, aber Haim hatte es besser gewusst. Nach dem Abendessen, wenn Lil mit Aufräumen und Abwasch beschäftigt war, hatte Haim sich in seinen
Korbsessel sinken lassen und Nell auf den Schoß genommen. Sie erinnerte sich, wie seine starken, warmen Arme sich um sie gelegt hatten, als er das Buch in die Hände nahm, an den leichten Geruch nach Tabak in seinem Hemd, an seine rauen Bartstoppeln, die sich in ihrem Haar verfangen hatten.
Nell seufzte ein ums andere Mal. Haim war gut zu ihr gewesen, und Lil auch. Dennoch verscheuchte sie die Gedanken an die beiden und ging weiter in ihrer Erinnerung zurück. Es gab eine Zeit vor Haim, eine Zeit vor der Schiffsreise nach Maryborough, die Zeit auf Blackhurst mit dem Cottage und der Autorin.
Da - ein weißer Gartenstuhl, Sonne, Schmetterlinge. Nell schloss die Augen, gab sich der Erinnerung hin und ließ sich von ihr in einen warmen Sommertag tragen, in einen Garten, wo kühler Schatten auf einen saftigen Rasen fiel. Wo die Luft erfüllt war vom Duft nach Sommerblumen …
Das kleine Mädchen spielte, es sei ein Schmetterling. Ein Blumenkranz schmückte sein Haar, und es lief mit ausgebreiteten Armen im Kreis herum, ließ sich von der Sonne die Flügel wärmen. Die Kleine fühlte sich großartig, als ihr weißes Kleid in der Sonne silbern schimmerte.
»Ivory.«
Die Kleine reagierte nicht
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