Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
beiden eingeschlafen ist. Rose muss gewusst haben, wie es ihrer Cousine erging, und sie wird befürchtet haben, dass Eliza irgendetwas tun könnte, das ihr neu gefundenes Glück zerstörte.«
»Zum Beispiel, ihr Ivory wieder wegnehmen«, bemerkte Christian.
»Was sie ja am Ende tatsächlich getan hat.«
»Ja«, sagte Ruby, »was sie am Ende getan hat.« Sie schaute Cassandra mit großen Augen an. »Wann bist du denn mit Clara verabredet?«
»Sie hat mich für morgen Vormittag um elf zu sich eingeladen.«
»Mist. Ich reise um neun Uhr ab. Die Arbeit ruft. Am liebsten hätte ich dich ja begleitet, ich hätte dich sogar hinfahren können.«
»Ich fahre Sie hin«, sagte Christian. Er war dabei, an den Knöpfen des Petroleumofens zu drehen, um die Flamme höher zu stellen, und der Petroleumgeruch war stärker geworden.
Cassandra tat, als würde sie Rubys Grinsen nicht bemerken. »Wirklich? Sind Sie sicher?«
Er lächelte sie an. »Sie kennen mich doch, ich helfe immer gern, wo ich kann.«
Cassandra erwiderte sein Lächeln, dann, als sie spürte, dass sie errötete, senkte sie den Blick und betrachtete die Tischplatte. In Christians Gegenwart kam sie sich manchmal vor wie eine Dreizehnjährige. Und es war so ein schönes, wehmütiges Gefühl, als würde das Leben noch vor ihr liegen, dass sie es am liebsten gar
nicht mehr loslassen würde. Dass sie am liebsten ihr schlechtes Gewissen vergessen würde, das ihr einredete, Christians Gegenwart zu genießen, sei treulos gegenüber Nick und Leo.
»Was glauben Sie, warum Eliza bis 1913 gewartet hat?« Christian schaute die beiden Frauen an. »Bis sie sich Nell zurückgeholt hat, meine ich. Warum hat sie es nicht schon eher getan?«
Cassandra fuhr mit der Hand über die Tischplatte. Betrachtete die Muster, die das flackernde Kerzenlicht auf ihre Haut malte. »Ich glaube, sie hat es getan, weil Rose und Nathaniel bei diesem Eisenbahnunglück ums Leben gekommen waren. Ich vermute, dass sie trotz aller widerstrebenden Gefühle bereit war, sich zurückzuhalten, solange Rose glücklich war.«
»Aber nachdem Rose tot war …«
»Genau.« Sie schaute Christian an. Etwas an der Ernsthaftigkeit seines Gesichtsausdrucks berührte sie sehr. »Nachdem Rose tot war, konnte sie es mit ihrem Gewissen nicht länger vereinbaren, Nell auf Blackhurst zu lassen. Ich nehme an, sie wollte Mary ihre Tochter zurückgeben.«
»Und warum hat sie es dann nicht getan? Warum hat sie das Kind auf ein Schiff nach Australien gesetzt?«
Cassandra seufzte, und ihr Atem ließ die Kerzenflamme vor ihr flackern. »Auf die Frage habe ich noch keine Antwort gefunden.«
Und sie wusste auch immer noch nicht, was und wie viel William Martin gewusst hatte, als er 1975 mit Nell gesprochen hatte. Mary war immerhin seine Schwester - hätte er dann nicht wissen müssen, dass sie schwanger gewesen war? Dass sie ein Kind geboren und nicht großgezogen hatte? Und wenn er von der Schwangerschaft wusste und von der Rolle, die Eliza bei der inoffiziellen Adoption gespielt hatte, dann hätte er Nell doch sicherlich davon erzählt. Denn wenn Mary Nells Mutter war, dann war William schließlich ihr Onkel. Cassandra konnte sich nicht vorstellen, dass er geschwiegen hätte, wenn eine lange verloren geglaubte Nichte plötzlich bei ihm vor der Tür stand.
Aber in Nells Notizbuch stand nichts von einer solchen Offenbarung durch William. Cassandra hatte lange über den Seiten gebrütet auf der Suche nach Hinweisen, die sie vielleicht übersehen haben könnte. William hatte nichts gesagt oder getan, was darauf schließen ließe, dass er in Nell eine Verwandte erkannt hatte.
Natürlich war es möglich, dass William nichts von Marys Schwangerschaft mitbekommen hatte. Aus Zeitschriftenartikeln und aus amerikanischen Talkshows wusste Cassandra, dass so etwas tatsächlich vorkam, dass Frauen eine Schwangerschaft die ganzen neun Monate über geheim hielten. Und es war anzunehmen, dass Mary das getan hatte. Damit alles reibungslos ablaufen konnte, hatte Rose mit Sicherheit auf Diskretion bestanden, denn auf keinen Fall durfte das ganze Dorf erfahren, dass ihr Kind nicht ihr eigenes war.
Aber war es wirklich möglich, dass eine junge Frau schwanger wurde, sich mit dem Vater des Kindes verlobte, ihre Arbeitsstelle verlor, das Neugeborene weggab und dann ihr Leben wieder aufnahm, als wäre nichts geschehen - ohne dass jemand von alldem etwas bemerkte? Es musste einfach irgendetwas geben, das Cassandra noch nicht durchschaut hatte,
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