Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
ohnmächtig geworden.
Es war jemand bei ihr, ein Mann, der ihr gegenübersaß. Sein Kopf war seitlich gegen den Ledersitz gelehnt, und sein regelmäßiger
Atem wurde manchmal von leichtem Schnarchen unterbrochen. Er war klein und rundlich, und auf seinem Nasenrücken klemmte eine bügellose Brille.
Eliza holte tief Luft, sie war wieder zwölf Jahre alt, sie war aus ihrer vertrauten Umgebung herausgerissen worden und fuhr einer ungewissen Zukunft entgegen. Sie war eingesperrt in einer Kutsche mit dem bösen Mann, von dem ihre Mutter ihr immer erzählt hatte. Mansell.
Und dennoch … irgendwie schien es nicht zu stimmen. Irgendetwas wollte ihr nicht einfallen, eine dunkle summende Wolke am Rande ihres Denkens. Irgendetwas Wichtiges, irgendetwas, das sie tun musste.
Sie atmete schwer. Wo war Sammy? Er müsste eigentlich bei ihr sein, sie musste ihn beschützen …
Hufgetrappel draußen. Das Geräusch machte ihr Angst und verursachte ihr Übelkeit, auch wenn sie nicht wusste, warum. Die dunkle Wolke begann zu wirbeln. Sie kam näher.
Elizas Blick fiel auf ihren Rock und die im Schoß gefalteten Hände. Ihre Hände, und doch überhaupt nicht ihre.
Helles Licht bahnte sich den Weg durch ein Loch in der Wolkendecke: Sie war gar nicht mehr zwölf, sie war eine erwachsene Frau …
Aber was war geschehen? Wo war sie? Warum war Mansell bei ihr?
Ein Cottage hoch auf den Klippen, ein Garten, das Meer …
Ihre Atemzüge wurden jetzt lauter, brannten ihr in der Kehle.
Eine Frau, ein Mann, ein Kind …
Panik erfasste sie.
Immer mehr Licht … die Wolke verschwand, löste sich auf …
Worte, Bedeutungsfetzen: Maryborough … ein Schiff … ein Kind, nicht Sammy, ein kleines Mädchen …
Elizas Kehle brannte. Ein Loch öffnete sich in ihr und füllte sich rasch mit schwarzer Angst.
Das kleine Mädchen war ihre Tochter.
Klarheit, die so grell brannte: Ihre Tochter war allein auf einem Schiff, das bald ablegen würde.
Die Panik durchdrang all ihre Poren. Ihr Puls raste und hämmerte gegen ihre Schläfen. Sie musste fliehen, zurück zum Schiff.
Eliza spähte seitlich zur Tür.
Die Kutsche fuhr schnell, aber es war ihr egal. Das Schiff würde heute ablegen, und das kleine Mädchen war an Bord. Das Kind, ihr Kind, ganz allein.
Mit schmerzender Brust und dröhnendem Kopf streckte Eliza die Hand aus.
Mansell regte sich. Seine trüben Augen öffneten sich, erblickten Elizas Arm, die Finger, die den Türgriff umklammerten.
Ein grausames Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen.
Sie drückte den Griff herunter: Er wollte sich auf sie stürzen, um sie aufzuhalten, aber Eliza war schneller. Ihre Not war letztendlich größer.
Und sie fiel, die Tür der Kutsche hatte sich geöffnet, und sie fiel, fiel, fiel in Richtung der kalten, dunklen Erde. Die Zeit verschmolz in einen Moment, Vergangenheit war Gegenwart war Zukunft. Eliza schloss die Augen nicht, sie sah die Erde näher kommen, der Geruch nach Schlamm, Gras, Hoffnung - und sie flog mit ausgebreiteten Flügeln über den Boden, immer höher, ließ sich vom Wind tragen, das Gesicht kühl, der Kopf ganz klar. Und Eliza wusste, wohin es ging. Sie flog zu ihrer Tochter, zu Ivory. Zu dem Menschen, den sie ihr ganzes Leben gesucht hatte, ihrer anderen Hälfte. Endlich war sie wieder ganz und auf dem Weg nach Hause.
49 Cliff Cottage Cornwall, 2005
Endlich war sie wieder im Garten. Über dem Unwetter, Rubys Besuch und dem Gespräch mit Clara waren Tage vergangen, bis Cassandra wieder eine Gelegenheit gefunden hatte, unter der Mauer hindurchzuschlüpfen. Eine seltsame Ruhelosigkeit hatte sie gequält, die sich erst jetzt langsam legte. Es war schon merkwürdig, dachte sie, während sie einen Gummihandschuh über ihre rechte Hand zog: Sie hatte nie viel Interesse am Gärtnern gehabt, aber an diesem Ort war das etwas anderes. Sie hatte einen unwiderstehlichen Drang verspürt, hierherzukommen, mit den Händen in der Erde zu wühlen und den Garten wieder zum Leben zu erwecken. Als sie die Finger des anderen Handschuhs glatt zog, fiel ihr Blick erneut auf den schmalen Streifen weißer Haut um ihren Ringfinger.
Sie fuhr mit dem Daumen über diesen weißen Hautstreifen. Er war glatter und weicher als die Haut, die ihn umgab. Dieser weiße Streifen war der jüngste Teil von ihr, zwölf Jahre jünger als der Rest. Verborgen seit dem Tag, als Nick den Ring über ihren Finger gestreift hatte, der einzige Teil an ihr, der sich nicht geändert hatte, der nicht gealtert war. Bis
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