Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
Abend würde Dr. Matthews Eliza aufsuchen. Dann ergriff Mary Elizas Hände und flüsterte, falls sie doch zu der Überzeugung gelangt sei, das Kind zu behalten, müsse sie sofort aufbrechen. Sie solle ihr Kind nehmen und fliehen.
Aber obwohl der Gedanke an Flucht schon Elizas Herz ergriffen hatte, obwohl er an ihr zerrte und sie zum Handeln drängte, ließ sie ihn schnell wieder fallen. Ohne den fürchterlichen Schmerz in ihrer Brust zu beachten, versicherte sie Mary noch einmal, sie wisse, was sie tue. Sie betrachtete ihr Kind, das perfekte kleine Gesicht, versuchte zu begreifen, dass sie es zur Welt gebracht hatte, dass sie dieses wunderbare Wesen geschaffen hatte, bis der pochende Schmerz in ihrem Kopf, ihrem Herzen, ihrer Seele unerträglich wurde. Und dann, als beobachtete
sie sich selbst aus weiter Ferne, tat sie, was sie versprochen hatte: legte das winzige Kind in Marys Arme und ließ zu, dass sie es mitnahm. Schloss die Tür hinter ihr und blieb allein im stillen, leblosen Cottage zurück. Und als die Morgendämmerung sich über den Garten legte und die Wände des Cottage wieder zurücktraten, wurde Eliza bewusst, dass sie nie zuvor in ihrem Leben das schwarze Grauen der Einsamkeit gekannt hatte.
Auch wenn sie Linus’ Faktotum Mansell verachtete und seinen Namen verflucht hatte, als er Eliza in ihr Leben geholt hatte, konnte Adeline nicht bestreiten, dass der Mann wusste, wie man Leute aufspürte. Erst drei Tage waren vergangen, seit er nach London geschickt worden war, und an diesem Nachmittag, als Adeline im Wintergarten saß und so tat, als wäre sie mit Stickarbeiten beschäftigt, wurde sie ans Telefon gerufen.
Mansell am anderen Ende der Leitung war Gott sei Dank diskret. Man konnte nie wissen, ob nicht an einem anderen Apparat jemand mithörte. »Ich rufe an, Lady Mountrachet, um Ihnen mitzuteilen, dass ich jetzt einige der Waren, die Sie bestellt haben, besorgen konnte.«
Adeline stockte der Atem. So bald schon? Vorfreude, Hoffnung und Nervosität verursachten ihr ein Kribbeln in den Fingerspitzen. Sie schluckte. »Und darf ich fragen, ob es sich um den größeren oder den kleineren Gegenstand handelt, der sich in Ihrem Besitz befindet?«
»Um den größeren.«
Adeline schloss die Augen. Sie bemühte sich, sich weder ihre Erleichterung noch ihre Freude anmerken zu lassen. »Und wann kann ich mit der Lieferung rechnen?«
»Wir verlassen London unverzüglich. Ich werde heute Abend auf Blackhurst eintreffen.«
Und Adeline hatte gewartet. Und immer noch wartete sie. Lief
auf dem Orientteppich hin und her, glättete ihren Rock und kommandierte die Dienstboten herum, während sie fieberhaft überlegte, wie sie Eliza aus dem Weg räumen könnte.
Eliza hatte sich einverstanden erklärt, nie wieder in die Nähe des Hauses zu kommen, und das tat sie auch nicht. Aber sie hielt die Augen offen. Und sie spürte, dass sie, obwohl sie genügend Geld gespart hatte, um eine Schiffsreise in ein fernes Land zu buchen, etwas davon abhielt. Es war, als hätte sich mit der Geburt des Kindes der Anker, den Eliza ihr ganzes Leben lang gesucht hatte, in den Boden von Blackhurst versenkt.
Das Kind übte eine magnetische Anziehungskraft aus, und so blieb sie. Dennoch löste sie ihr Versprechen gegenüber Rose ein und hielt sich vom Haus fern. Suchte sich neue Verstecke, von denen aus sie das Haus beobachten konnte. So wie sie es als Mädchen getan hatte, wenn sie auf dem Regal in Mrs Swindells winzigem Zimmer unter dem Dach gelegen hatte. Und beobachtete, wie sich die Welt um sie herum bewegte, während sie selbst sich reglos verhielt, außerhalb des Geschehens.
Denn mit dem Verlust des Kindes war sie mitten in ihr altes Leben zurückgefallen, in ihr früheres Selbst. Sie hatte ihr Geburtsrecht aufgegeben und damit den Sinn ihres Lebens verloren. Sie schrieb kaum noch, lediglich ein Märchen, das sie für würdig erachtete, in die Sammlung aufgenommen zu werden. Die Geschichte über eine junge Frau, die allein in einem dunklen Wald lebte, die aus dem richtigen Grund die falsche Entscheidung traf und so nach und nach ihr Leben zerstörte.
Aus tristen Monaten wurden lange Jahre, dann, eines Sommermorgens im Jahr 1913, traf das fertige Märchenbuch vom Verlag ein. Eliza lief damit ins Haus, riss die Verpackung auf, um den ledergebundenen Schatz freizulegen. Sie setzte sich in ihren Schaukelstuhl, schlug die Titelseite auf und hielt sich das Buch vors Gesicht. Es roch
nach frischer
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