Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
Druckerschwärze und nach Leim, genau wie ein richtiges Buch. Und innendrin standen ihre Geschichten, ihr mit Herzblut geschriebenes Werk. Sie blätterte die eng bedruckten, frischen Seiten um, bis sie zu Die Augen des alten Weibleins kam. Beim Lesen des Märchens fiel ihr wieder der eigenartige, lebhafte Traum im Garten unter dem Apfelbaum ein, der in ihr das alles durchdringende Gefühl hinterlassen hatte, dass das Kind in ihrem Bauch für die Geschichte wichtig war.
Und plötzlich wusste Eliza, dass das Kind, ihr Kind, das Märchen besitzen musste, dass die beiden irgendwie miteinander verbunden waren. Also wickelte sie das Buch in Packpapier, wartete eine passende Gelegenheit ab, und schließlich tat sie das, was sie versprochen hatte, niemals zu tun: Sie durchschritt das verbotene Tor des Labyrinths und näherte sich dem Haus.
Unzählige Staubpartikel tanzten in einem Streifen Sonnenlicht, der zwischen zwei Fässern hindurchfiel. Das kleine Mädchen lächelte, und die Autorin, die Klippe, das Labyrinth, Mama, all das war mit einem Mal vergessen. Es streckte einen Finger aus, versuchte, ein Staubkorn zu erwischen. Lachte darüber, wie nah die Körnchen dem Finger kamen, bevor sie davonschwebten.
Die Geräusche in der Umgebung änderten sich. Das kleine Mädchen hörte Fußgetrappel, aufgeregtes Stimmengewirr. Es beugte sich in den Lichtschleier vor und legte die Wange an das kühle Holz des Fasses. Spähte mit einem Auge auf das Deck.
Beine und Schuhe und Rocksäume. Bunte Luftschlangen, die im Wind flatterten. Gewitzte Möwen, die das Deck nach Krumen absuchten.
Das riesige Schiff schlingerte, und tief aus seinem Bauch ertönte ein lang gezogenes Stöhnen. Die Deckplanken vibrierten, dass das kleine Mädchen es bis in die Fingerspitzen spürte. Ein kurzer Augenblick der Ungewissheit, das Mädchen hielt den
Atem an, stützte sich mit den Handflächen am Boden ab, dann hob und senkte sich das Schiff und entfernte sich vom Kai. Die Schiffssirene heulte auf, großer Jubel und »Bon Voyage!«-Rufe erklangen, und sie waren unterwegs.
Sie kamen am späten Abend in London an. Die Dunkelheit lag dicht und schwer über dem Straßengewirr, als sie den Weg vom Bahnhof zum Fluss einschlugen. Das kleine Mädchen war müde - Eliza hatte es wecken müssen, als sie die Endstation erreichten -, aber es beschwerte sich nicht. Es hielt Elizas Hand und folgte ihren klappernden Absätzen.
An diesem Abend teilten sie sich in ihrem Zimmer eine Suppe mit Brot. Beide waren müde von der Reise und sprachen kaum, beäugten sich nur neugierig über ihren Löffel hinweg. Das kleine Mädchen fragte nach seiner Mutter und seinem Vater, aber Eliza antwortete nur, dass sie dort, wo sie hinfuhren, auf sie warten würden. Es war die Unwahrheit, aber Eliza war zu dem Schluss gekommen, dass es nicht anders ging: Sie würde Zeit brauchen, um sich zu überlegen, wie sie der Kleinen beibringen würde, dass Rose und Nathaniel nicht mehr lebten.
Nach dem Abendessen fiel Ivory sofort auf dem einzigen Bett im Zimmer in tiefen Schlaf, während Eliza im Sessel am Fenster saß. Sie betrachtete abwechselnd die dunkle Straße, auf der es von Menschen nur so wimmelte, und das schlafende Kind, das sich ab und zu unter dem Laken regte. Mit der Zeit rückte Eliza immer näher an das Kind heran, beobachtete das kleine Gesicht mehr und mehr aus der Nähe, bis sie sich schließlich vorsichtig neben das Bett kniete, so nah, dass sie den Atem der Kleinen in ihrem Haar spüren und die winzigen Sommersprossen auf ihren Wangen zählen konnte. Und was für ein perfektes Gesicht das war, wie prächtig die elfenbeinfarbene Haut und die Rosenknospen-Lippen. Es war dasselbe Gesicht, derselbe weise Ausdruck, den Eliza schon in den ersten Tagen nach der Geburt wahrgenommen hatte. Dasselbe Gesicht, das ihr seitdem so oft in ihren nächtlichen Träumen begegnet war.
Und mit einem Mal überkam sie ein überwältigendes Gefühl, ein Verlangen, das nur Liebe sein konnte, so heftig, dass jede Pore ihres Körpers mit Gewissheit gefüllt war. Es war, als würde ihr Körper dieses Kind erkennen, das sie so selbstverständlich auf die Welt gebracht hatte, so wie sie ihre eigene Hand, ihr eigenes Gesicht im Spiegel und ihre Stimme in der Dunkelheit erkannte. Ganz vorsichtig legte sich Eliza aufs Bett und schmiegte sich an das schlafende Mädchen. Wie sie sich in anderen Zeiten, in einem anderen Zimmer, an den warmen Körper ihres Bruders Sammy geschmiegt
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