Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
beide teilen uns den Stand und verkaufen dort alte Sachen.«
»Ich kenne dich«, sagte Nell schwach. »Du bist Lesleys Tochter.«
Cassandra blinzelte verblüfft. Sie sprachen fast nie von ihrer Mutter. In all den Jahren, als sie bei ihrer Großmutter aufgewachsen war, und in den zehn Jahren, seit sie zurückgekehrt und in die kleine Wohnung im Untergeschoss von Nells Haus gezogen war, hatten sie sie kaum jemals erwähnt. Es war eine unausgesprochene Abmachung zwischen ihnen, nicht an eine Vergangenheit zu rühren, die sie beide aus unterschiedlichen Gründen lieber vergessen wollten.
Nell zuckte zusammen. Ängstlich musterte sie Cassandras Gesicht. »Wo ist der Junge? Hoffentlich nicht hier. Ist er hier? Ich will nicht, dass er meine Sachen anfasst. Er macht nur alles kaputt.«
Cassandra wurde schwindlig.
»Meine Sachen sind wertvoll. Pass auf, dass er sie nicht anfasst.«
»Nein … Nein«, stotterte Cassandra. »Ich passe schon auf. Keine Sorge, Nell. Er ist nicht hier.«
Später, als ihre Großmutter wieder in die dunklen Gewässer des Schlafs eingetaucht war, dachte Cassandra über die grausame Fähigkeit des Gehirns nach, Schnipsel aus der Vergangenheit in Erinnerung zu bringen. Warum meldeten sich an ihrem Lebensende Stimmen von Menschen im Kopf ihrer Großmutter, die längst nicht mehr da waren? War das immer so? Suchten diejenigen, die die Überfahrt auf dem lautlosen Schiff des Todes antraten, alle den Kai nach den Gesichtern derer ab, die ihnen vorausgereist waren?
Cassandra musste eingeschlafen sein, denn als sie die Augen aufschlug, hatte sich die Stimmung im Krankenhaus wieder geändert. Sie waren noch tiefer in den Tunnel der Nacht eingedrungen. Das Licht im Korridor war gedämpft, und von überall her waren die Geräusche des Schlafs zu vernehmen. Sie saß in sich zusammengesunken in ihrem Sessel, ihr Hals war steif, und ein Fuß war ganz kalt, weil die dünne Decke verrutscht war. Es musste sehr spät sein, und sie war hundemüde. Was hatte sie bloß geweckt?
Nell. Ihr Atem ging laut. Sie war wieder wach. Cassandra stand auf und setzte sich auf die Bettkante. Im gedämpften Licht wirkten Nells Augen glasig, bleich und trüb wie Wasser, in dem man einen Farbpinsel ausgewaschen hat. Ihre Stimme, ein dünner Faden nur, drohte jeden Augenblick zu zerreißen. Zuerst konnte Cassandra sie gar nicht hören und dachte, dass sich nur ihre Lippen um Worte herumbewegten, die sie vor langer Zeit ausgesprochen hatte. Dann wurde ihr klar, dass Nell mit ihr redete.
»Die Dame hat mir gesagt, ich soll warten …«
Cassandra streichelte Nells warme Stirn und strich ihr ein paar Strähnen aus dem Gesicht, die einst geglänzt hatten wie aus Silberfäden gesponnen. Die rätselhafte Dame schon wieder. »Sie wird dir bestimmt nicht böse sein«, sagte Cassandra. »Die Dame wird es dir nicht übel nehmen, wenn du gehst.«
Nell presste die zitternden Lippen aufeinander. »Ich darf mich nicht von der Stelle rühren. Sie hat gesagt, ich soll warten, hier auf dem Schiff.« Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern. »Die Dame … die Autorin … Erzähl niemandem davon.«
»Schsch«, sagte Cassandra sanft. »Ich werde niemandem davon erzählen, Nell, auch nicht der Dame. Du darfst ruhig gehen.«
»Sie hat gesagt, sie würde mich abholen, aber ich bin weggegangen. Ich bin nicht geblieben, wo ich sollte.«
Der Atem ihrer Großmutter ging jetzt sehr schwer, sie geriet in Panik.
»Bitte mach dir keine Sorgen, Nell, bitte. Es ist alles in Ordnung. Ich verspreche es dir.« Nells Kopf fiel zur Seite. »Ich kann nicht gehen … Ich sollte nicht … Die Dame …«
Cassandra drückte auf den Notrufknopf, aber über dem Bett ging kein Licht an. Sie zögerte, lauschte auf herbeieilende Schritte auf dem Korridor. Nells Lider flatterten, sie dämmerte weg.
»Ich hole eine Schwester …« »Nein!« Blind tastete Nell nach Cassandra und versuchte, sie festzuhalten. »Lass mich nicht allein.« Sie weinte lautlos, Tränen schimmerten auf ihrer bleichen Haut.
Cassandra biss sich auf die Lippe. »Es ist alles in Ordnung, Grandma. Ich hole nur Hilfe. Ich bin gleich wieder da. Versprochen.«
4 Brisbane Australien, 2005
Das Haus schien zu spüren, dass seine Besitzerin fort war, und auch wenn es nicht unbedingt um sie trauerte, so hüllte es sich zumindest in trotziges Schweigen. Nell hatte nie viel für Gäste und Partys übrig gehabt (selbst die Küchenmäuse hatten
mehr Lärm gemacht als ihre Enkelin), und das Haus war an ein
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