Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
Papier auseinanderfaltete, das er aus seiner Brusttasche gezogen hatte. Er räusperte sich und fuhr sich mit der Hand über das ordentlich gekämmte Haar. Öffentliche Reden zu halten, war nie seine Stärke gewesen. Er war eher zurückhaltend, behielt seine Ansichten lieber für sich und überließ das Reden gern den wortgewaltigeren unter seinen Geschlechtsgenossen. Aber seine Tochter wurde nur einmal volljährig, und es war seine Pflicht, zu diesem Ereignis ein paar Worte zu sagen. Er war schon immer ein Verfechter der Pflichterfüllung gewesen, einer, der sich an die Regeln hielt. Meistens jedenfalls.
Er lächelte und hob eine Hand, als einer seiner Kameraden vom Hafen ihn laut aufforderte, endlich das Wort zu ergreifen, dann legte er den kleinen Zettel in seine Handfläche und holte tief Luft. Einen nach dem anderen ging er die Stichpunkte durch, die er sich mit schwarzer Tinte auf dem Zettel notiert hatte: Wie stolz er und seine Frau auf Nell waren, dass ihre Geburt ein Segen für sie gewesen war, die Antwort auf all ihre Gebete, wie sehr
sie Danny mochten und wie beglückt Lil gewesen war, als sie kurz vor ihrem Tod von der Verlobung der beiden erfahren hatte. Als er seine kürzlich verstorbene Frau erwähnte, brannten Hamishs Augen, und er musste seine Rede kurz unterbrechen. Er blinzelte mehrmals, um die Worte auf seinem Zettel lesen zu können, dann schaute er die Gäste an. Es sei an der Zeit, sagte er trocken, noch einen Mann in der Familie zu haben, damit er nicht länger auf verlorenem Posten stehe. Alle lachten, und seine Töchter verdrehten theatralisch die Augen, wussten sie doch, wie sehr er seine Mädchen liebte. Hamish ließ den Blick über die Gesichter seiner Freunde und seiner Töchter wandern und schaute schließlich Nell an, die lächelnd zuhörte, während Danny ihr etwas ins Ohr flüsterte. Noch einmal atmete Hamish tief ein, und als sein Gesicht sich kurz verdüsterte, rechneten seine Zuhörer damit, dass er eine wichtige Ankündigung machen würde. Doch dann hellte seine Miene sich wieder auf, Hamish steckte den Zettel zurück in seine Brusttasche und wünschte allen guten Appetit.
Die Damen in der Küche traten in Aktion und servierten den Gästen Tee und Sandwiches, doch während alle anderen an den Tischen Platz nahmen, blieb Hamish noch eine Weile stehen, ließ sich von seinen Freunden mit einem »Gut gemacht, Kumpel!« auf die Schulter klopfen und von einer der Damen eine Tasse Tee in die Hand drücken. Die Rede war gut angekommen, und doch konnte Hamish sich nicht entspannen. Sein Herz schlug zu schnell, und er schwitzte, obwohl es nicht heiß war.
Natürlich kannte er den Grund. Noch hatte er nicht alle Pflichten erfüllt, die sich ihm an diesem Abend stellten. Als er sah, wie Nell allein durch die Seitentür auf die kleine Treppe trat, verstand er das als seine Chance. Er räusperte sich, stellte seine Teetasse zwischen zwei Päckchen auf dem Gabentisch ab und trat aus dem mit behaglichem Stimmengemurmel erfüllten Saal in die kühle Nachtluft hinaus.
Nell stand neben dem silbrig grünen Stamm eines einzelnen
Eukalyptusbaums. Früher, dachte Hamish, war der ganze Hügel dicht bewachsen gewesen mit Eukalyptusbäumen, ebenso wie die Täler zu beiden Seiten. All diese geisterhaften Baumstämme mussten in einer Vollmondnacht ein beeindruckender Anblick gewesen sein.
Seine Gedanken waren nur ein Ablenkungsmanöver. Immer noch versuchte er, sich vor der Verantwortung zu drücken. Er war drauf und dran, wieder einen Rückzieher zu machen.
Zwei schwarze Fledermäuse flogen lautlos durch den Nachthimmel, als Hamish die wackeligen Holzstufen hinunterstieg und durch das taunasse Gras ging. Sie musste ihn gehört oder vielleicht gespürt haben, denn sie drehte sich um und lächelte ihm entgegen.
Sie habe gerade an ihre Mutter gedacht, sagte sie, als er neben sie trat, und sich gefragt, von welchem Stern sie wohl auf sie herabschaute.
Hamish hätte weinen können, als sie das sagte. Musste sie ausgerechnet jetzt Lil ins Spiel bringen, verdammt. Ihn daran erinnern, dass sie zuschaute und ihm übel nahm, was er vorhatte. Vielleicht hatte sie ja sogar recht. Vielleicht musste es nicht sein. Sie könnten einfach so weiterleben wie bisher. Lils Stimme klang in seinen Ohren, zählte all die alten Argumente auf.
Nein. Er musste die Sache in die Hand nehmen und er hatte seine Entscheidung getroffen. Schließlich war er es gewesen, der das alles angefangen hatte. Es mochte nicht seine Absicht
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